Meinungsartikel

Ein Schulterschluss für die Verantwortung

7. Dezember 2023, von Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich

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Die Stärke Frankfurts liegt in einer sich gegenseitig respektierenden und befruchtenden Vielfalt. Doch wir müssen uns in diesen Tagen mehr denn je auf unsere gemeinsamen demokratischen Werte besinnen.

Verantwortung beginnt immer bei einem selbst. Und erstreckt sich im besten Falle auf seine direkte Umgebung, auf die man noch unmittelbar einwirken kann. Die Verantwortung für globalere Zusammenhänge zu übernehmen, übersteigt das direkte und zumeist mittelbare Einflussfeld. Je weiter wir uns von unserem Handlungsradius entfernen, desto unwahrscheinlicher werden die Wirkungen unserer Interventionen und die Komplexität des Fernen scheint überdimensionale Größe anzunehmen. Was tatsächlich als nah und fern angenommen wird, ist letztendlich eine Frage der Konstruktion, also einer mehr oder weniger impliziten, bisweilen expliziten sozialen und kulturellen Einigung darüber.

Als Vorsteher einer Frankfurter Stiftung, deren Wurzeln in der Tradition des Frankfurter Bürgertums verankert sind, ist klar, dass Verantwortung bedeutet, diese für die eigene Stadt zu übernehmen.

Im Falle der Stiftung Polytechnische Gesellschaft stammen die grundlegenden Werte aus der Zeit der Aufklärung. Der Humanismus ist prägend, die Vernunft, den Menschen aus seiner Unmündigkeit zu befreien, leitend, Willkürherrschaft wird abgelehnt, Bildung und Bürgerrechte sollen dominieren. Schließlich: Die Freiheit als kostbares Gut muss gesichert werden. Aus diesem Denken ist die moderne Demokratie entstanden, die selbst wiederum der Garant für das Ausleben der genannten Werte bildet. Was eine schöne Welt - und wie unvorstellbar, dass das Barbarische des zweiten Weltkrieges mit der geplanten Massenvernichtung von Jüdinnen und Juden hat dennoch stattfinden können.

Dies geschah, obwohl Werte und Gedanken und eben die Aufklärung schon in der Welt waren. Verantwortung und Haltung dazu, ob ganz nah bei sich dran oder weiter entfernt von einem selbst, haben wohl offensichtlich die Wenigsten übernommen. Das darf sich jetzt nicht wiederholen. Zwar hat sich nach dem zweiten Weltkrieg ein zivilisiertes, an der Demokratie ausgerichtetes Europa gebildet mit einem darin fest verankerten Deutschland. Das alleine reicht aber nicht aus, um sicher zu gehen, dass es auch in Zukunft so weitergeht. Dass der Weg so nicht fortgeschritten wird, zeigen die unterschiedlichsten Bewegungen in Europa, die eher, um es freundlich zu formulieren, demokratieskeptisch sind. Auf der restlichen Welt sieht es nicht viel besser aus: Die meisten Menschen leben nicht in einer Demokratie - und die Migration bringt Menschen zu uns, denen die demokratischen Werte nicht unbedingt in die Wiege gelegt wurden. Unsere Werte sind folglich alles andere als selbstverständlich. Nicht zu vergessen sind zunehmend jene, die die Demokratie eigentlich mit der Muttermilch hier im Lande aufgesaugt haben sollten, aber durch die Blasen der sozialen Medien von einer demokratisch-faktenbasierten Meinungsbildung abgehalten werden.

Ein gelingendes Miteinander, bei dem der Respekt vor dem Individuum, der Umwelt, ja dem ganzen Leben, im Vordergrund steht, dürfte gerade mit den Werten der Aufklärung langfristig sicherzustellen sein. Es braucht Haltung, Verantwortung und schließlich konkrete Handlung, um die demokratisch geprägte Zivilisation zu bewahren. Und das beginnt, nun ja, eben vor der eigenen Haustür, dem direkten Einzugsbereich unserer Verantwortung, mitten in Frankfurt.

Dabei ist selbstverständlich, dass Verantwortung auch bedeutet, zu verstehen, dass Geschichte, niemals endet. Geschichte ist immer schon da und die Grundlage für jedes Hier und Jetzt. Und weil diese Verknüpfung so evident ist, ist jede Vorstellung, dass eine Geschichte abschließbar sei, doch sehr naiv. Wir alle tragen - systemische Familienaufstellungen zeigen es in der alltäglichen Therapiepraxis eindrucksvoll - die Geschichte immer in uns. Zu dieser Geschichte gehört, dass Frankfurt immer schon eine jüdisch geprägte Stadt, eines der Mittelpunkte deutsch-jüdischen Lebens gewesen ist. Nach der Tötungsmaschinerie der Nazidiktatur können wir der prägenden Kraft der Geschichte dankbar sein, dass wieder jüdisches Leben in Frankfurt beheimatet ist. Jüdinnen und Juden sind wieder Frankfurterinnen und Frankfurter. Sie waren es, sie sind es und werden es immer sein. Für den zweiten und dritten Teil des Satzes müssen wir kämpfen, da wir ansonsten Gefahr laufen, unserer Geschichte beraubt zu werden. Dafür brauchen wir erneut Haltung. Es kann und darf nicht sein, dass Jüdinnen und Juden in unser aller Stadt wieder auf gepackten Koffern sitzen, Angst erleiden müssen. Da, wo Jüdinnen und Juden Angst haben, müssen wir Angst fürchten, da wo Jüdinnen und Juden nicht mehr leben können, können wir selbst nicht mehr leben!

Unter diesem Gesichtspunkt ist es unerträglich, wenn auf Straßen in Frankfurt Kundgebungen stattfinden, die eine Nähe zu Hamas offenbaren oder Sprüche skandiert werden, die zu interpretieren sind als das, was sie sind oder nicht sein sollten. Wer in Deutschland demonstriert, darf und sollte es tun, das ist Teil der Demokratie. Aber er darf damit nicht implizit oder explizit unsere Werte und Geschichte und die damit verbundene Verantwortung negieren.

Zu den Werten der Zivilisation gehört im Übrigen auch eine Form des Anstandes sowie ein gewisses Fingerspitzengefühl. Und so frage ich mich, was in einem Menschen, der doch ein gewisses Maß an Empathie für sein Gegenüber empfinden sollte, abläuft, wenn dieser kurz nach dem bestialischen, erneuten Zivilisationsbruch, welcher am 7. Oktober diesen Jahres in Israel durch die Hamas begangen wurde, auf die Straße geht, um in einer bedenklichen Melange aus Sympathie für den Angriff auf Israel und der Betroffenheit für die leidtragende Zivilbevölkerung in Palästina zu demonstrieren - während dessen Volk als lebendiges Schutzschild durch die Hamas missbraucht wird. Es würde deutlich bessere Zeiten geben, um uns auch für eine globale Verantwortung zu sensibilisieren. Diese Bilder und die Menschen, die das tun, sie passen nicht zu unserer Demokratie und unseren Werten. Sie passen nicht zu Frankfurt. Dies gilt für Menschen mit und ohne deutschen Pass, mit und ohne Migrationshintergrund - nur dass das hier nicht falsch verstanden wird. Vor allem aber schaden sie der überwiegenden Zahl von Mitbürgerinnen und Mitbürger und der Erfolgsgeschichte unserer Stadt, die darauf basieren, an unserer Gesellschaft teilzuhaben - und ihr auch etwas zurück zu geben. Frankfurts Stärke ist das Potential einer sich gegenseitig respektierenden und befruchtenden Vielfalt. Das sie existieren kann, ist Ergebnis gelebter aufklärerischer Werte, das Ergebnis unserer Demokratie und Verfassung. Wir dürfen angesichts der leicht vereinnahmenden Kraft des Hasses die Bilder des Gelingens, die wir alle zusammen über Jahrzehnte in der Mehrheit produziert haben, nicht opfern. In einer Zeit, in der bevorzugt auf Minderheiten geschaut wird, dürfen wir die Mehrheit des Gelingens nicht übersehen. Wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Und so wünschen ich mir einen Schulterschluss der bunten Frankfurter Zivilgesellschaft, die sich für unsere jüdischen Frankfurter Mitbürgerinnen und Mitbürgern einsetzt. Das ist eine Verantwortung die konkret von jedem von uns direkt vor seiner eigenen Haustür übernommen werden kann - und muss. Zumindest, wenn der Titel des Liedes von Hassan Annouri weiter stimmen soll: „Wir sind alles Frankfurter“.

Wie hieß es am Anfang dieses Beitrages? „Verantwortung beginnt immer bei einem selbst. Und erstreckt sich im besten Falle auf seine direkte Umgebung, auf die man noch unmittelbar einwirken kann.“ Dafür braucht es Kommunikation. Es braucht den Dialog, um hier in Frankfurt auch über das den Anschlag der Hamas hinausgehende Drama in Israel und Palästina zu sprechen, in Kontakt zu bleiben, das Nicht-Aushaltbare, die Widersprüche, die humanitären Katastrophen besprechbar zu halten. Dies im gegenseitigen menschlichen Respekt voreinander. Es wäre eine zivilisatorische Leistung, über die gemeinsame Fassungslosigkeit zusammen ins Weinen zu kommen, wenn Worte nicht mehr ausreichen. Hier in Frankfurt, so weit entfernt, wird es niemanden in der Zivilgesellschaft geben, der die Verantwortung für den Konflikt und dessen Lösung vor Ort im Nahen Osten übernehmen kann. Aber es wäre in Bezug auf die Verantwortung für das gemeinsame Leben in Frankfurt wichtig, dass hier das Gespräch - oder das empathische Trauern über jedes einzelne Opfer -  funktioniert, so dass, wenn es mal hart auf hart kommt, jeder für den anderen in dieser Stadt einsteht - egal welcher Herkunft er oder sie entstammt. Erst das darf man dann in modernen und herausfordernden Zeiten eine funktionierende Zivilgesellschaft nennen.

Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft

Dieser Text ist am 21. November 2023 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, RheinMainZeitung erschienen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.