Portrait

»Ich habe meinen Traumberuf gefunden«

23. Januar 2024, von Alexander Jürgs

Teilen

Im Hintergrund läuft der Rap-Klassiker »No Diggity«, gespielt wird das Kartenspiel »Phase 10«, an der Wand hinter den Jugendlichen hängen Poster mit Fotos von den Freizeiten, die sie gemacht haben: Reisen zur Ronneburg, nach Berlin, in die Vereinigten Staaten, in die Türkei. Am Kopfende des Tischs sitzt Mikel White, der Leiter des Jugendtreffs »KOSMOS« im Frankfurter Stadtteil Sossenheim.

Dass er einmal ein erfolgreicher, engagierter Sozialpädagoge werden würde, damit hat wohl niemand gerechnet, der ihn als Jugendlicher kannte.Ein harter Kerl war er, ein Schläger, Anführer einer Jugendgang. »Wenn es Ärger gab, war ich dabei«, sagt White über seine Vergangenheit in den Neunziger Jahren. Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendbanden aus unterschiedlichen Stadtvierteln waren damals keine Seltenheit. Im Mai 1996 kommt es zu einer, die Mikel White beinahe nicht überlebt. Nach einem Volksfest stoßen Gangs aus den Stadtteilen Nied und Sossenheim aufeinander. White versucht noch zu schlichten, doch dann wird er angegriffen. Ein Messerstich in Brust und Lunge, eine lebensgefährliche Verletzung, die Notfallsanitäter müssen ihn noch vor Ort behandeln, um sein Leben zu retten.

Zum Umdenken bringt es ihn trotzdem nicht. »Mir hat die Vaterfigur gefehlt«, erinnert er sich. Sein Vater war ein afroamerikanischer US-Soldat, der in Deutschland stationiert war. Schon bald nach der Geburt seines Sohns hatte er Frankfurt verlassen. Der Junge wächst bei seiner Mutter auf, bereits in der Grundschule hat er oft Ärger. »Schwer erziehbar«: Dieser Stempel wird ihm früh aufgedrückt. Er fliegt von der Schule, kommt in ein Heim. Als er zur Mutter zurückkehrt, ziehen sie nach Sossenheim. Rassismus war damals allgegenwärtig: »Wir wurden ›Kanacken‹ genannt«, beschreibt Mikel White die damalige Zeit. In der Gang findet er Freunde und Akzeptanz. »Man wurde gesehen und anerkannt, das hat mir Halt gegeben«, sagt er.

Mikel White ist damals selbst oft zu Gast in dem Jugendtreff, den er heute leitet. Im »KOSMOS« ist vieles anders: Dort wird er nicht schief angeguckt wegen seiner Gang-Mitgliedschaft, dort spielt die Herkunft keine Rolle, dort wird jeder erst einmal akzeptiert, so wie er ist. Dort gibt es aber auch Regeln, auf die streng geachtet wird. Diskriminierende Schimpfwörter sind verboten, kein Jugendlicher darf einen anderen beleidigen. Wer betrunken oder bekifft ist, kommt nicht rein in den Treff. White ist beeindruckt von den Sozialarbeiterinnen und -arbeitern, weil sie ihn für voll nehmen, aber auch herausfordern. Sie helfen ihm auch, als er »ganz tief in der Patsche« sitzt. Bei einer Schlägerei bricht er einem Mann den Kiefer. Die Medien berichten über den Vorfall, der Jugendliche flieht zu seinem Vater in die USA. Als er zurückkehrt, kommt er vor Gericht und wird wegen schwerer Körperverletzung verurteilt: 20 Monate Haft auf Bewährung. Er muss ein Anti-Gewalt-Training absolvieren und Arbeitsstunden ableisten.

Seit

2014

...leitet Mikel White den Jugendtreff »KOSMOS« in Frankfurt-Sossenheim.

Mikel White fragt im »KOSMOS« nach, ob er die Arbeitsstunden dort machen kann. Er hofft, dass das entspannt für ihn wird; stattdessen wird er intensiv eingespannt, muss vieles leisten, zum Beispiel den Hof und die Schächte kehren, darf aber auch Verantwortung übernehmen – etwa über die Essenskasse des Jugendtreffs. Für den Jugendlichen werden die Arbeitsstunden zum Wendepunkt. Er merkt, dass man mit Sozialarbeit etwas bewirken kann.

Als seine damalige Freundin und heutige Frau schwanger wird und seine Tochter zur Welt kommt, krempelt Mikel White sein Leben um: Er macht seinen Fachoberschulabschluss, danach eine Ausbildung bei Fiat, er arbeitet bei einer Versicherung. Doch die Bürowelt ist nichts für ihn. Er besucht die Fachschule für Sozialarbeit, später schließt er ein Fernstudium zum sozialpädagogischen Berater ab. Heute sagt er: »Ich habe meinen Traumberuf gefunden.« Er will Jugendlichen helfen, damit sie die Fehler, die er gemacht hat, nicht selbst machen müssen. Mit seiner Vergangenheit geht er offen um.

»Für den Jugendlichen werden die Arbeitsstunden zum Wendepunkt. Er merkt, dass man mit Sozialarbeit ›etwas bewirken‹ kann.« Alexander Jürgs

2007 wird er auf das Stadtteil-Botschafter-Projekt der Stiftung Polytechnische Gesellschaft aufmerksam. Er bewirbt sich und ist überrascht, dass er trotz seiner kriminellen Laufbahn angenommen wird. Er setzt ein Projekt zur Gewaltprävention um, der Titel: »Leben zwischen Beton«. Mit der Stiftung fühlt er sich bis heute »eng verbunden«. Im Jugendtreff »KOSMOS«, den er seit 2014 leitet, hat Mikel White einiges verändert: Er hat eine Hausaufgabenhilfe initiiert, einen Mittagstisch. Im Keller des Jugendtreffs bietet er Thai-Kickbox-Kurse an. Er selbst hat den Kampfsport lange als Profi betrieben, war 2008 Amateur-Weltmeister im Thaiboxen-Schwergewicht.

Mikel White ist überzeugt: Gegen Gewalt auf der Straße wirken die Kurse als Prävention. Wer sich beim Sport verausgabt und behauptet, braucht keinen Halt in einer Gang.

Stadteil-Botschafter

Weiterlesen