PSYCHISCHE GESUNDHEIT

»Das Gehirn ist ein bio­logisches Wunder­werk«

Interview mit Dr. med. Robert Bittner
geführt von Elisabeth Brachmann

24. November 2023

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Dr. med. Robert Bittner ist stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psycho­therapie am Universitätsklinikum Frankfurt und Projektleiter der "Frankfurter Informationsplattform für schizo­phrene Psychosen" (FIPPS). Deren Entstehung wird im Rahmen der Förderlinie "Psychische Gesundheit" von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft gefördert. Im Interview berichtet Dr. Bittner, was ihn am komplexesten menschlichen Organ, dem Gehirn, so fasziniert und wie Aufklärung über schwere psychische Erkrankungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt.

Herr Dr. Bittner, warum haben Sie sich auf das Feld der schizophrenen Psychosen spezialisiert?

Bittner: Das Gehirn hat mich schon immer fasziniert. Ich frage mich, wie aufgrund von Fehlfunktionen im Gehirn bestimmte fremdartig oder merkwürdig erscheinende Symptome der Erkrankung zustande kommen. Mich treibt die Frage um, wie man das erklären kann, weil man darüber etwas zu den besseren Behandlungs­möglichkeiten lernen kann – aber gleichzeitig auch einiges über das Gehirn an sich.

Lassen Sie uns zunächst ein paar Grundbegriffe klären. Was versteht man unter "Schizophrenie"? Im Sprach­gebrauch verbinden viele Menschen den Begriff ja mit "multiplen Persönlichkeiten".

Bittner: Die Begriffe "Schizophrenie" oder "schizophren" werden in der Öffentlichkeit praktisch immer falsch verwendet. Es gibt das Krankheitsbild der "dissoziativen Identitätsstörung", das man früher auch "multiple Persönlichkeitsstörung" nannte. Das ist ein sehr seltenes Krankheitsbild und hat mit der Schizophrenie überhaupt nichts zu tun, wird aber leider typischerweise damit gleichgesetzt. Als der Begriff "Schizophrenie" Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, sollte darauf hingewiesen werden, dass bei Betroffenen einerseits sehr auffällige Störungen beispielweise der Wahrnehmung und des Denkens bestehen, während andererseits wichtige Hirnfunktionen, wie die Sprache oder Motorik, scheinbar völlig unbeeinträchtigt bleiben. Diese Zweiteilung – das Nebeneinander intakter und gestörter mentaler Prozesse – meint der Begriff "Schizophrenie" eigentlich. Darin unterscheidet sich die Erkrankung von anderen, in dieser Zeit wichtigen neuropsychiatrischen Krankheitsbildern wie der Neuro-Syphilis, bei der alle wichtigen Hirnfunktionen beeinträchtigt sein können.

»Die Begriffe ›Schizophrenie‹ und ›schizophren‹ werden in der Öffentlichkeit praktisch immer falsch verwendet.«

Aufgrund seiner offensichtlichen Missverständlichkeit und der mit ihm verbundenen Stigmatisierung verwende ich den Begriff "Schizophrenie" in der Interaktion mit Patienten und Angehörigen praktisch nicht, sondern spreche von "Psychose", was eigentlich ein Oberbegriff ist, der auch andere Krankheitsbilder umfasst. In Japan hat man Schizophrenie sogar offiziell umbenannt. Unabhängig von einem konkreten Namen vermitteln wir heute als zentrales Konzept, dass Schizophrenie eine Erkrankung ist, bei der die Informationsverarbeitung im Gehirn gestört ist.

Wie macht sich das bemerkbar?

Bittner: Folge dieser Informationsverarbeitungsstörung sind zum einen psychotische Symptome, die sich auf verschiedene Sinne auswirken können. Patientinnen und Patienten haben zum Beispiel akustische Halluzi­nationen. Das heißt sie hören Stimmen oder Geräusche, die sie für real halten, ohne dass es eine externe Reiz­grundlage gibt. Das kann auch die visuelle Wahrnehmung betreffen, also optische Halluzinationen. Sie sehen komische Gestalten, bizarre oder auch alltägliche Dinge, die nicht vorhanden sind.

Weiterhin kann es zu Wahnsymptomen kommen. Dazu gehören auch Verfolgungsideen, durch die Betroffene die Befürchtung haben, sie werden bedroht, man will sie umbringen, vergiften, man spioniert ihnen nach, man filmt sie. Sie haben den Eindruck, Menschen auf der Straße lachen sie aus, reden über sie. Manche Betroffene nehmen auch Zeichen oder Botschaften in Schil­dern oder Plakaten wahr. Manchmal kommt es zu religiösen, spirituell gefärbten Wahnideen, oder Menschen berichten von Erscheinungen. Oder sie haben das Gefühl, dass sie besondere Fähigkeiten haben, eine besondere Aufgabe oder Mission. Manche denken, ihre Gedanken können von anderen gelesen oder manipuliert werden, oder dass ihnen Gedanken aus dem Kopf genommen oder eingegeben werden.

Auf der anderen Seite sind aber eben doch nicht nur solche psychotischen Symptome Folge dieser Informationsverarbeitungsstörung. Betroffene haben auch kognitive Störungen, die sie im Alltag beeinträchtigen: Konzentrationsprobleme, Lernprobleme, Schwierigkeiten Unter­haltungen und Sprache zu verstehen, Inhalte von Sätzen zu erfassen, sich selbst adäquat auszudrücken – all das fällt ihnen schwer.

Ab wann spricht man von einer "Psychose"?

Bittner: Das würde ich ein bisschen anders formulieren: Schizophrenie ist eine Erkrankung, die gekennzeichnet ist durch das Auftreten von Psychosen. Psychosen können grundsätzlich bei verschiedenen Erkrankungen auf­treten, zum Beispiel während eines Alkoholentzugs oder nach einer schweren Operation. Das kann jedem passieren, hat dann aber in der Regel eine klar benennbare externe Ursache. Geht die vorbei, erholt sich das Gehirn und die psychotischen Symptome verschwinden wieder.

Schizophrene Psychosen entwickeln sich dagegen einschleichend, das passiert nicht von einem Tag auf den anderen. Dem Ausbruch einer schizophrenen Psychose geht ein komplizierterer und langer Krankheitsprozess voraus. Die Realitätskontrolle funktioniert zunächst noch, das heißt Betroffene haben die Idee: "Da ist jemand, der könnte mir gefährlich werden," können das aber noch hinterfragen. Dieser Risikozustand dauert im Schnitt fünf Jahre.

In dieser Zeit machen sich als erstes die kognitiven Schwierigkeiten bemerkbar, bei den Patientinnen und Patienten, und in ihrem sozialen Umfeld. Es kommt zu einem Leistungsknick, der sich zum Beispiel durch Probleme in der Schule oder im Studium bemerkbar macht. Und dann kommen nach und nach die Psychose-Symptome dazu. Unterschwellig erst, dann können sie für ein paar Tage schon einmal stärker werden, gehen dann von selbst wieder zurück. Man hat also einen langsam voranschreitenden Prozess.

Themenschwerpunkt Psychische Gesundheit

Gibt es bestimmte Faktoren, die die Entstehung schizophrener Psychosen begünstigen?

Bittner: Man weiß, dass schizophrene Psychosen durch Störungen in der Entwicklung des Gehirns ausgelöst werden, und das hat im Wesentlichen genetische Ursachen. Es gibt allerdings nicht einzelne Gene, welche die Krankheit verursachen. Stattdessen handelt es sich um eine Kombination aus vielen dutzenden, für sich genommen harmlosen genetischen Veränderungen, die aber eben in Kombination das Risiko für die Erkrankung erhöhen.

Umweltrisikofaktoren können die Gehirnentwicklung ebenfalls stören, wie Schwangerschafts- oder Geburts­komplikationen. Aber auch beispielsweise körperlich-sexualisierte Gewalterfahrungen erhöhen das Risiko, eine schizophrene Psychose zu entwickeln. Drogenkonsum kann ein weiteres Beispiel sein, aber es ist wichtig zu betonen, dass Drogenkonsum nur einer unter mehreren Risikofaktoren ist. Der Konsum von Drogen erhöht auch das Risiko für andere psychische Erkrankungen. Es handelt sich also nicht um einen spezifischen Risikofaktor.

Weil es sich um eine Gehirnentwicklungsstörung handelt, macht sich die Schizophrenie – wie viele andere psychischen Erkrankungen auch – häufig an der Schwelle der Pubertät zum jungen Erwachsenenalter bemerkbar, also etwa zwischen dem 18. und 30. Lebensjahr. In dieser Zeit vollziehen sich noch relevante Entwicklungs­schritte im Gehirn, das reicht bis in die dritte Lebensdekade hinein. Das macht es oft schwierig, die Symptome der Schizophrenie von einer natürlich physiologisch ablaufenden Entwicklung zu unterscheiden, weil sich in dieser Zeit eben ohnehin bei jedem Menschen körperlich und mental sehr viel verändert.

Bei uns allen werden etwa ab dem zehnten Lebensjahr die synaptischen Verbindungen im Gehirn, die oft gebraucht werden, erhalten, und nicht genutzte Verbindungen werden abgebaut. Man weiß inzwischen, dass offenbar bei Menschen, die eine Schizophrenie entwickeln, in diesem Entwicklungsschritt zu viele synaptische Verbindungen wieder ab­gebaut werden – also auch solche, die eigentlich gebraucht werden. Dadurch kommt es zu den genannten Störungen in der Informationsverarbeitung, den kognitiven und irgendwann auch zu den psychotischen Symptomen.

Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Wir alle generieren intern Sprache, innere Monologe. Unser Gehirn kann normalerweise selbstgenerierte Sprache und Gedanken von Sprache, die von außen wahrgenommen wird, sehr gut unterscheiden. Das hat damit zu tun, dass das Gehirn immer signalisiert, wenn es selbst einen Prozess in Gang setzt. Dann teilt es anderen Hirnregionen mit: "Hallo, ich habe hier gerade ein bestimmtes neuronales Muster selbst generiert."

Bei Patientinnen und Patienten mit Psychosen ist dieser Vorgang gestört. Dadurch können die innere Stimme und eigene Gedanken als von außen wahrgenommene Stimmen oder eingegebene Gedanken wahrgenommen werden, obwohl sie selbst intern generiert wurden. Das kann auch auf Bewegungen zutreffen: Wenn ich den Arm hebe und die Information darüber kommt nicht in den richtigen Teilen des Gehirns an, habe ich den Eindruck, ich habe den Arm nicht selbst gehoben, sondern der wurde ferngesteuert.

Wie viele Menschen sind davon betroffen?

Bittner: Etwa 0,7 bis 1 Prozent der Bevölkerung erkrankt an einer schizophrenen Psychose. Das sind immerhin rund 800.000 Menschen in Deutschland, die direkt betroffen sind. Rechnen wir das direkte soziale Umfeld mit ein, das bei dieser Art Erkrankung ebenfalls stark betroffen ist, ist die Zahl gleich drei- bis viermal so hoch.

Und wie viele Menschen sind allgemein von psychischen Erkrankungen betroffen?

Bittner: Insgesamt kann man sagen, dass fast ein Drittel aller Menschen zu jeder Zeit von psychischen Erkrankungen betroffen sind. Sie gehören zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt. Überspitzt ausdrückt ist das nicht wirklich verwunder­lich: Die Anfälligkeit unserer Psyche für Erkrankungen ergibt sich nicht zuletzt aus der Komplexität des Gehirns. Je komplexer ein bestimmtes Organ ist, desto anfälliger ist es sozusagen für "Fehlfunktionen".

Wie kann eine schizophrene Psychose behandelt werden und wie ist die Prognose? Können Betroffene unter Behandlung ein relativ normales Leben führen?

Bittner: Die psychotischen Symptome können gut durch antipsychotische Medikamente behandelt und kontrolliert werden. Es ist dabei sehr wichtig, dass man die passende Medikation für die Patientin oder den Patienten findet. Für Ärzte und Angehörige ist es zunächst einmal einfach zu sagen: "Nimm dieses Medikament, dann gehen die Stimmen weg." Die Betroffenen müssen dazu bereit sein, ein Medikament einzunehmen und dazu müssen sie merken, dass es ihnen etwas bringt, dass es ihnen besser geht und dass sie mit den möglichen Nebenwirkungen, die je nach Medikament unterschiedlich ausfallen können, gut leben können. Wenn das nicht gegeben ist – etwa, weil der Patient mit eventuellen Nebenwirkungen nicht ernstgenommen wird oder er nicht weiß, dass es Alternativen zu einem Medi­kament gibt, mit dem er nicht zufrieden ist – dann wird er früher oder später nicht mehr bereit sein, es einzunehmen. Das würde aber jedem Menschen bei jeder anderen Erkrankung auch so gehen.

Die kognitiven Störungen, die sich am frühesten zeigen, sind gleichzeitig die Symptome, die die Betroffenen im Alltag am langfristigsten beeinträchtigen. Sie sprechen nicht auf die aktuell verfügbaren antipsychotischen Medikamente an. Haben sich die psychotischen Symptome durch die Medikation gut eingestellt, bleiben diese kognitiven Störungen häufig weiterhin bestehen. Sie führen dazu, dass die Patientinnen und Patienten Schwierig­keiten in der Ausbildung oder im Beruf haben. Das ist eine der größten ungelösten Herausforderungen in der Behandlung der Erkrankung und der wesentliche Grund für die anhaltende Behinderung vieler Betroffener.

»Das Ziel der Behandlung ist der möglichst kompetente Patient und auch der möglichst kompetente Angehörige.«

Eine wichtige Maßnahme für die Verbesserung der Behandlung sind Früherkennungsmaßnahmen, wie wir Sie auch in unserem neu gegründeten "Früherkennungs- und Therapiezentrum (FeTZ)" anbieten. In unserem FeTZ untersuchen, beraten und begleiten wir Menschen, die über erste subtile Symptome einer Schizophrenie wie kognitive Störungen, Depression oder subtile psychotische Symptome berichten. Man weiß aber auch, dass nur ein Teil der Menschen mit einem erhöhten Psychoserisiko eine schizo­phrene Psychose entwickelt. Manche erholen sich vollständig, manche entwickeln eine weniger gravierende psychische Erkrankung. Das ist ein Risikozustand, aus dem sich eine ganze Reihe psychischer Erkrankungen entwickeln kann. Deshalb ist es wichtig, die Patienten frühzeitig zu identifizieren und zu verhindern, dass sie unbehandelt bleiben, weil die Prognose der Patientinnen und Patienten – wie gut sie auf die Medikation ansprechen, wie fit sie im Alltag sind und wie stark sie auch die kognitiven Symptome einschränken – klar davon abhängt, wie früh sie behandelt werden.

Auch hier ist es wie bei vielen anderen Erkrankungen: Je länger eine Schizophrenie unbehandelt bleibt, desto schlechter ist die Prognose. Eine Behandlung macht aber trotzdem zu jedem Zeitpunkt Sinn, man kann mit entsprechenden Maßnahmen auch bei seit Jahren bestehenden Erkrankungen sehr gute Erfolge erzielen. Die Chancen sind aber umso besser, je früher man sie erkennt und handelt. Das Ziel der Früherkennungs­maßnahmen ist, zeitnah psychotherapeutisch zu intervenieren. Selbst ohne Medikamente kann eine Psychotherapie das Voranschreiten der Erkrankung abmildern und gegebenenfalls auch ihren vollen Ausbruch verhindern. Als weiterer Schritt kann auch eine niedrig dosierte medikamentöse Behandlung angeboten werden.

Vor diesem Hintergrund sind die Behandlungschancen insgesamt gut. Mit einer individuell angepassten Therapie kann es gelingen, die meisten Patientinnen und Patienten in die Remission zu bringen. Das heißt, sie soweit zu stabilisieren, dass nur noch minimale Restsymptome vorhanden sind, die den Alltag nicht relevant beeinflussen.

Warum gibt es gerade über schizophrene Psychosen so viele Vorurteile in der Bevölkerung? Welche Folgen hat das für Betroffene?

Bittner: Die Symptome, die bei Psychosen auftreten können, wirken erst einmal sehr fremdartig und bizarr. Umstehende können sich das nicht erklären, wenn Betroffene davon berichten, aber für diese hat das einen sehr hohen Realitätsgehalt. Dass die Patienten nicht in der Lage sind, den Realitätsgehalt dieser subjektiven Erlebnisse zu hinterfragen, ist Kern der Psychose.

Mich beschäftigt sehr, dass sich die Erkrankung – noch mehr als die meisten anderen psychischen Erkrankungen – auf das familiäre und soziale Umfeld auswirkt. Die ersten kognitiven Schwierigkeiten der Patientinnen und Patienten können schon zu Konflikten mit den Angehörigen führen. Oft wird gedacht: Da strengt sich jemand nicht richtig an, ist faul oder verhält sich einfach unsozial. Dabei sind diese Schwierigkeiten schon Ausdruck eines beginnenden Krankheitsprozesses. Wenn dann die Psychose kommt, kommt es auch zu unberechenbaren, bizarren Verhaltensweisen, und das kann umso mehr Verunsicherung und Ängste auslösen.

In dieser Hinsicht sind Angehörige wirklich betroffen. Sie merken: Mit dem Sohn, dem Partner, einem Elternteil stimmt etwas nicht. Sie rätseln unter Umständen über Jahre, was los ist und die Betroffenen sind oft nicht krankheitseinsichtig. Eine schwerwiegende Folge für Kinder von Eltern mit unbehandelten schweren psychischen Erkrankungen wie der Schizophrenie ist die sogenannte Parentifizierung. Das bedeutet, dass heranwachsende Kinder in die Elternrolle schlüpfen müssen, weil die Eltern zu krank sind. Das ist eine wirklich schwerwiegende Folge. Das beeinträchtigt die Kinder in ihrer Entwicklung.

Deshalb ist es unheimlich wichtig, auch die Angehörigen in die Behandlung einzubeziehen. Sie brauchen genauso Aufklärung über die Erkrankung und Unterstützung, damit auch sie kompetent mit der Situation um­gehen können. Die Betroffenen haben eine erheblich reduzierte Stressresistenz. Deshalb sind der Umgang und das Vermeiden von Stressoren ein ganz wichtiger Teil der psychotherapeutischen Behandlung. Dazu gehört auch der Stress, der durch das familiäre Umfeld ausgelöst wird. Eine Familie, die nicht weiß, wie man mit der Situation umgeht, ist überfordert. Das ist kein Vorwurf, das ist einfach so. Und aufgrund der Überforderung löst sie zusätzlichen Stress beim Patienten aus. Das Ziel der Behandlung ist der möglichst kompetente Patient und auch der möglichst kompetente Angehörige.


Allgemeine Ursachen der Stigmatisierung hängen auch mit einem fehlenden Verständnis für die Erkrankung und ihre Ursachen in der Öffentlichkeit zusammen, beispielsweise durch die Berichterstattung in den Medien. Wenn man Betroffene fragt, die sich in Anti-Stigma-Projekten engagieren, sagen sie: "Wenn überhaupt über die Erkrankung berichtet wird, dann nur in Fällen, in denen eine Gewalttat von einem Erkrankten begangen wurde." Dadurch entsteht der Eindruck, dass Menschen mit Schizophrenie generell gewalttätig sind. In akuten Krankheitsphasen können einzelne Patientinnen oder Patienten tatsächlich aggressiv werden. Aber die aller­meisten Gewaltverbrechen werden nicht von Menschen mit schizophrenen Psychosen begangen, und was noch wichtiger ist: Menschen mit Psychosen werden doppelt so häufig Opfer von Gewaltverbrechen wie der Durchschnitt.

Es gibt auch historisch gewachsene Vorurteile. Viele Menschen denken, schizophrene Psychosen sind eine schwere, unheilbare Krankheit, mit der man möglicherweise für immer im Krankenhaus bleiben muss. Früher gab es tatsächlich keine wirksamen Behandlungsmöglichkeiten, aber das ist heute ganz anders. Eine Ursache historischer Stigmatisierung, die Deutschland in besonderem Maße betrifft, ist, dass Menschen mit Schizophrenie zu der Gruppe von Menschen gehörten, die unter der Nazi-Schreckensherrschaft als angeblich "lebens­unwertes Leben" zu zehntausenden Opfer der Euthanasie wurden, also der gezielten Tötung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die nationalsozialistische Propaganda, die auch in der Öffentlichkeit betrieben wurde, wirkt heute wahrscheinlich immer noch nach. Das lässt sich natürlich nur sehr schwer quantifizieren, aber das spielt sicher noch eine Rolle. Das führt sogar dazu, dass Nachfahren der Opfer der Euthanasie­verbrechen teilweise noch immer von Schuld- und Schamgefühlen geplagt sind – obwohl sie zu den Opfern gehören!

»Menschen mit Schizophrenie gehörten zu den Menschen, die unter der Nazi-Schreckens­herrschaft als angeblich ›lebens­unwertes Leben‹ zu zehn­tausenden Opfer der Euthanasie wurden. Die national­sozialistische Propaganda, die auch in der Öffent­lichkeit betrieben wurde, wirkt heute wahr­scheinlich immer noch nach. Das lässt sich natürlich nur sehr schwer quanti­fizieren, aber das spielt sicher noch eine Rolle.«

Ein anderer Punkt, der die Stigmatisierung fördern kann, ist die zu einseitige Fokussierung auf das Thema Drogen­konsum. Cannabis erhöht das Risiko für Schizophrenie relevant, und früher Cannabis-Konsum ist umso schäd­licher, weil er die Hirnreifung stört. Es ist aber trotzdem zu einfach zu sagen: "Eine Schizophrenie bekommt nur, wer zu viel kifft."

Das heißt, Menschen mit schizophrenen Psychosen sind vor allem eine besonders vulnerable Patientengruppe?

Bittner: Korrekt. Es gelingt auch immer noch zu wenig, Menschen mit Psychosen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Man weiß, dass Maßnahmen wie die kontinuierliche Begleitung und Unterstützung der Menschen mit Psychosen am Arbeitsplatz und das Vermitteln zwischen Patienten, Arbeitgebern und Kollegium eine wichtige Maßnahme ist. Es gibt auch eine entsprechende medizinische Arbeitsrehabilitation für Menschen mit Psychosen und anderen schweren psychischen Erkrankungen. Das wird aber nicht flächendeckend umgesetzt und trägt zusätzlich zur sozialen Isolation vieler Betroffener bei und erhöht ihr Armutsrisiko immens.

Ein sehr großes Problem sind zudem Vorurteile innerhalb der Ärzteschaft. Das hat zur Folge, dass Patientinnen und Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie nicht die gleiche Behandlungs­qualität für körperliche Erkrankungen bekommen wie psychisch gesunde Menschen. Diesen Patientinnen und Patienten fällt es oft ohnehin schwer, sich in regelmäßige Behandlung zu begeben. Wenn dann auch noch die Bereitschaft bei Ärztinnen und Ärzten fehlt, sich für diese Patientinnen und Patienten zu engagieren, weil es häufig mehr Aufwand bedeutet, ist das sehr problematisch. Menschen mit Schizophrenie waren auch beispiels­weise besonders stark von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen. Versorgungsangebote sind weg­gebrochen und bezogen auf COVID-19 ist die Sterblichkeit bei Psychose-Patienten im Vergleich höher, weil sie häufig unter unentdeckten körperlichen Begleiterkrankungen leiden oder weil sie nicht in der Lage waren, sich selbst um Behandlungsmöglichkeiten und Impfungen zu kümmern.

Das größte Problem, zu dem auch die Stigmatisierung innerhalb der Ärzteschaft beiträgt, ist die deutlich erhöhte Mortalität der Betroffenen: Im Vergleich verlieren sie 15 Jahre Lebenszeit, in vielen Fällen durch nicht oder nicht richtig diagnostizierte oder behandelte – aber häufig behandelbare – körperliche Erkrankungen.

Sie sind der Projektleiter der "Frankfurter Informationsplattform für schizophrene Psychosen" (FIPPS) an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Frankfurt. Was möchten Sie mit dieser Plattform erreichen?

Bittner: Mit FIPPS verfolgen wir im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen gibt es einen großen Informationsbedarf bei Betroffenen schizophrener Psychosen und ihrem sozialen Umfeld, der durch die aktuell zugänglichen Quellen nicht verlässlich bedient wird. Die Plattform wird für jeden zugänglich sein. Die Informationen werden so gestaltet, dass sie für Patientinnen und Patienten, Angehörige und auch für heranwachsende Kinder verständlich sind, damit sie verstehen, was da mit ihren erkrankten Angehörigen passiert. Wir haben ganz ausdrücklich in dem Projekt einen trialogischen Beirat aus Fachleuten, Patienten und Angehörigen. Diese breite Zusammensetzung soll dafür sorgen, dass die Belange aller Gruppen richtig berücksichtigt werden und die Darstellung der Informationen auch angemessen ist. Für all diese Personen soll die Plattform einen hürdenarmen Wegweiser für Behandlungsangebote und Unterstützung bieten, damit der Weg zu Diagnose und Intervention deutlich verkürzt wird.

Der Wegweiser bezieht sich zunächst auf Frankfurt und das unmittelbare Rhein-Main-Gebiet. Aber die grund­legenden Informationen zur Krankheit sind allgemeingültig. Wir haben auch erste Übersetzungsangebote, in Frankfurt werden immerhin 140 Sprachen gesprochen. Die Plattform soll langfristig so aufgestellt sein, dass sie wirklich die besonders vulnerablen Gruppen erreicht – dazu gehören auch die mit Migrationshintergrund und deren Angehörige.

Zum anderen wollen wir mit der Plattform auch der Stigmatisierung der Krankheit entgegenwirken. Es hat sich gezeigt, dass neben reiner Information auch der Kontakt mit Betroffenen wirksam Vorurteile über und Distanz zu diesem Thema abbaut. Deshalb sind wir ganz besonders dankbar, dass sich eine Reihe von Patientinnen und Patienten freiwillig bereiterklärt hat, Fallberichte und Videointerviews zu der Plattform bei­zusteuern.

»Jeder Mensch kann beispielsweise durch unverschuldete Lebensumstände in eine psychische Krise geraten, auch in eine schwere. Alle betroffenen Menschen verdienen unsere Unterstützung.«

Diese Informationen und Erfahrungsberichte sollen zur Entstigmatisierung in der allgemeinen Öffentlichkeit beitragen. Daneben stellen wir die Informationen in einem gezielten Anti-Stigma-Projekt Medizinstudierenden im ersten Studienjahr zur Verfügung und wollen untersuchen, inwieweit ein bis zwei Stunden Beschäftigung mit Erfahrungsberichten zu diesem Thema zu einer Reduzierung von Stigmatisierung führt. Mit Blick auf die bestehenden Vorbehalte, die es auch in der Ärzteschaft über die Erkrankung gibt, könnte so mit besonders geringem Aufwand besonders viel für die Patientinnen und Patienten erreicht werden, weil es sich direkt auf die medizinische Behandlungsqualität auswirken kann.

Der Beitrag der unterstützenden Stiftungen ist für ein Projekt wie FIPPS extrem hilfreich, dafür sind wir sehr dankbar. Aufgrund der finanziellen Unterstützung natürlich, aber auch durch ihre gute Vernetzung. Dieses Stiftungsengagement macht etwas möglich, was wir als Universitätsklinikum selbst mit unserem Versorgungsauftrag als Krankenhaus nicht leisten können und was auch die öffentliche Hand nicht so einfach leisten kann, weil es im Gesundheitssektor schon genug Nachholbedarf gibt in anderen ganz zentralen Punkten.

Psychische Gesundheit geht uns alle an. Das menschliche Gehirn ist ein biologisches Wunderwerk, es ist das komplizierteste Organ, das die Natur je hervorgebracht hat. Aber das macht es auch besonders anfällig – und diese Anfälligkeit betrifft uns alle. Jeder Mensch kann beispielsweise durch unverschuldete Lebensumstände in eine psychische Krise geraten, auch in eine schwere. Alle betroffenen Menschen verdienen unsere Unterstützung. Auch deswegen müssen wir gegen Stigmatisierung vorgehen und psychische Gesundheit noch mehr in den Fokus der Öffentlichkeit stellen.


Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft möchte mit der Förderlinie "Psychische Gesundheit" auf die Bedeutung des Themas aufmerksam machen. In unserer redaktionellen Begleitung zum Themenkomplex lassen wir unterschiedliche Stimmen und Ansichten von Expertinnen und Experten sowie Betroffenen zu Wort kommen. Die in den Beiträgen geäußerten Ansichten und Meinungen geben dabei nur die der jeweiligen Person wieder und müssen nicht mit denen des Herausgebers übereinstimmen.