Interview mit Dr. med. Susanne Schlüter-Müller

»Anti-Stigma-Kampagnen für psychisch Kranke fände ich gut«

2. August 2023, von Jens-Ekkehard Bernerth

Fotos: Dominik Buschardt, Anthony Tran/Unsplash, Emma Simpson/Unsplash

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Im Interview gibt die Frankfurter Kinderpsychiaterin Dr. med. Susanne Schlüter-Müller einen Einblick, was für psychisch Kranke getan werden kann, was resilienzfördernde Maßnahmen sind und was sich in der Gesellschaft ändern muss.

Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft möchte mit der Förderlinie auf die Bedeutung des Themas Psychische Gesundheit  aufmerksam machen. In unserer redaktionellen Begleitung zum Themenkomplex lassen wir unterschiedliche Stimmen und Ansichten von Expertinnen und Experten sowie Betroffenen zu Wort kommen. Die in den Beiträgen geäußerten Ansichten und Meinungen geben dabei nur die der jeweiligen Person wieder und müssen nicht mit denen des Herausgebers übereinstimmen.

Frau Dr. Schlüter-Müller, aus Ihrer Sicht als Expertin für psychische Gesundheit: Wie geht es denn den kleinen und jugendlichen Bürgern unserer Stadt?

Dr. Schlüter-Müller: Jetzt sage ich etwas, mit dem ich nicht unbedingt der allgemeinen Tendenz entspreche. Aber ich finde, der Jugend geht es gut. Corona hat auch nur eine kleine Gruppe beeinträchtigt. Sicherlich hat die Pandemie nochmal deutlich die Diskrepanz zwischen Arm und Reich gezeigt, was für Möglichkeiten für wohlhabende, gebildete Familien existieren und was armen Familien fehlt. Aber im großen und ganzen sind - Gott sei dank - Kinder und Jugendliche sehr stabil und halten eine Menge aus, bevor sie wirklich psychisch krank werden. In unserer Praxis haben wir keine Zunahme von schwereren psychischen Erkrankungen beobachtet; dies wird durch die Beobachtung des Berufsverbands der Kinder- und Jugendpsychiater in Deutschland untermauert, selbst wenn es gewisse Ängstlichkeiten bei kleineren Kindern gab, zum Beispiel Trennungsängste. Denn das ist die Entwicklungsaufgabe von einem Kindergartenkind, sich zu trennen. Wenn aber der Kindergarten nicht offen hat, ist diese Entwicklungsaufgabe erstmal nicht gefordert und muss dann später nochmal nachbereitet werden. Im großen und ganzen bleibt aber die Zahl der psychisch auffälligen Kinder und Jugendlichen relativ konstant.

Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie ist jeder vierte Erwachsene von psychischen Krankheiten betroffen, bei den Kindern hat sich die Zahl seit 2009 verdoppelt. Können Sie diese Entwicklung so bestätigen in Ihrer täglichen Erfahrung, dass eben wirklich mehr junge Menschen mit Auffälligkeiten zu ihnen kommen und Hilfe suchen?

Dr. Schlüter-Müller: Ja, das ist so. Aber nicht, weil sich die Zahl erhöht, sondern weil die Menschen es nicht mehr als so stark stigmatisierend empfinden, sich Hilfe zu holen. Das ist unsere Fachmeinung. Die Schwelle ist einfach niedriger geworden, Hilfe wird leichter aufgesucht, auch von männlichen Jugendlichen. Mädchen haben immer schon eher Hilfe aufgesucht, aber jetzt haben wir auch viele Jungen - nicht, weil die jetzt auffälliger sind, sondern weil Psychotherapie kein Tabuthema mehr ist. Ein Beispiel: Im Haus meiner Praxis war eine Zahnärztin, und die Jugendlichen haben früher oft gesagt: ‘Gott sei dank, wenn mich hier jemand reingehen sieht, dann kann ich ja sagen, ich war beim Zahnarzt.’ Sowas erlebe ich heute eigentlich nicht mehr. Das Stigma wird schwächer, doch die Krankheitsbilder ändern sich. Das finde ich wichtig zu sagen.

Inwiefern?

Dr. Schlüter-Müller: Wir sehen sehr viel häufiger eine narzisstische Entwicklung. Das ist auch eine gesellschaftliche Frage. Wir leben in einer sehr egozentrierten Zeit, und das zeigt sich in den Störungsbildern. Beispielsweise sehen wir auch viel mehr selbstverletzendes Verhalten. Das gab es früher nicht in diesem Ausmaß. Da war das Erbrechen eine häufige Symptomatik, ganze Schulklassen haben erbrochen. Die Gesunden haben irgendwann wieder aufgehört, und ein kleiner Prozentsatz hat weitergemacht und eine chronische Bulimie entwickelt. Heute sehen wir quasi keine Bulimie mehr, dafür erheblich häufiger Schülerinnen und Schüler mit selbstverletzendem Verhalten.

»Der Körper stellt auch für die psychische Störung eine Bühne dar.«

Dr. med. Susanne Schlüter-Müller

Woran liegt das ihrer Meinung nach? Was könnte gesellschaftlich die Ursache sein?

Dr. Schlüter-Müller: Ich sage jetzt etwas, was wir im Psychiaterverband politisch diskutieren. Von daher weiß ich nicht, ob alle Psychiater diesbezüglich einen Konsens haben. Ich finde, wir haben eine sehr auf den Körper bezogene Gesellschaft. Wir zeigen den Körper, Nacktheit ist total üblich, es wird tätowiert und gepierct. Der Körper ist eine Bühne geworden, die sich in der Öffentlichkeit präsentiert. Schon mit 14 Jahren wünscht sich ein großer Prozentsatz von Mädchen mit dem schönsten Körper der Welt eine Schönheitsoperation, weil irgendwas an ihnen nicht so ist, wie es angeblich sein soll. Und wenn der ganze Körper zur Disposition steht, den man beliebig verändern lassen kann, dann stellt der Körper auch für die psychische Störung eine Bühne dar. Das, so meine ich, ist der Grund, warum die Selbstverletzung so zunimmt. Es steckt nicht immer eine Borderline-Störung dahinter - was eine sehr schwere psychiatrische Erkrankung ist. Meiner Erfahrung nach ist es vor 30 Jahren undenkbar gewesen, sich selbst zu verletzen.

Also ist die Ursache gar nicht unbedingt im Elternhaus zu suchen, sondern vielleicht eher in den sozialen Medien, wo das alles vorgelebt wird, mit der Makellosigkeit und Schönheit, wo alles nur perfekt sein muss?

Dr. Schlüter-Müller: Volle Zustimmung. Nach 30 Jahren beruflicher Tätigkeit bin ich sehr, sehr gnädig mit Eltern geworden. Ich habe selten Eltern erlebt, die absichtlich einem Kind haben schaden wollen. Dieses Kausalitätsdenken: ‘Eltern sind schrecklich, darum ist das Kind so’ - das stimmt einfach nicht. Wir wenden seit Jahrzehnten ein biopsychosoziales Erklärungsmodell an, das besagt, dass auch die Genetik bedacht werden muss. Es gibt Kinder, die machen es einem total leicht gute Eltern zu sein; und es gibt Kinder, die eine erzieherische Herausforderung sind. Doch liegt es nicht daran, dass die Eltern nicht gut genug sind, sondern weil das Kind ein schwieriges Temperament mitbringt. Wir vererben nicht nur unsere Augen- oder Haarfarbe, sondern auch Temperamentsmerkmale. Sie können ihre Körpergröße nicht mit Erziehung beeinflussen und auch nicht ihre Augenfarbe, und sie können auch ihr Gewicht nur bedingt beeinflussen. Es gibt Dinge, die werden vererbt, und selbstverständlich werden auch Anlagen für psychische Erkrankungen vererbt. Es gibt eine familiäre Häufung für manche psychiatrische Erkrankung. Wenn ein Kind als Beispiel ein Elternteil hat, das eine Psychose hat, also eine Schizophrenie, hat das Kind ein 20-prozentiges Risiko, das auch zu bekommen. Wenn beide Elternteile schizophren sind, steigt das Risiko auf fast 50 Prozent. Und dann interessiert uns Psychiater: Warum kriegen das die anderen 50 Prozent nicht? Was sind die Resilienzfaktoren, die schützend wirken? Mit diesem biopsychosozialen Modell gibt es jetzt die Erklärungsmodelle für psychische Erkrankungen, und das finde ich einen Segen, weil das auch Eltern entlastet und diese Zuschreibung von ‘Kind auffällig, Eltern schuld’ auflöst. Allerdings ist das ist keine Reinwaschung von Eltern; wenn ein Kind schwer misshandelt oder gar missbraucht oder vollkommen vernachlässigt wird, dann ist das ein Trainingslager für psychische Erkrankungen. Gar keine Frage. Trotzdem ist es erstaunlich, dass es Kinder gibt, die Schreckliches erlebt haben und die trotzdem so ein Überlebenspäckchen dabei haben. Die sind in so schwierigen Bedingungen aufgewachsen und dafür recht gesund geblieben. Das haben auch diverse Studien gezeigt.

Wie kann jemand, der nicht so ein Überlebenspäckchen mitbekommen hat, resilient werden? Kann man das überhaupt werden im Nachhinein?

Dr. Schlüter-Müller: Das kann man üben, was allerdings nicht heißt, dass es eine Garantie gibt, dass man nicht anfälliger, vulnerabler ist für psychische Erkrankungen. Bei Zwangserkrankungen der Eltern beispielsweise gibt es durch das Verhalten zusätzlich eine Konditionierung beim Kind, etwa wenn es ständig Händewaschen muss und nichts anfassen darf. Wenn es dann aber eine Oma oder Tante oder einen Betreuer im Kindergarten gibt, die ein Gegenmodell darstellt, dann kann sich das sehr positiv als Rollenmodell auswirken. Kinder sind ja was ganz Tolles! Die holen sich eigentlich immer das Gesündeste vom Modell ab. In der Therapie würden wir dann etwa mit Fingerfarben arbeiten, um therapeutisch entgegenzuwirken, in der Erde matschen, um dem Kind "Schmutz" zu erlauben, also das Kind an der Seite ermutigen, die zu Hause zu kurz kommt. So kann man Resilienz fördern. Man weiß mittlerweile dank Studien sehr viel über Resilienzfaktoren und was Resilienz ausmacht: Selbstvertrauen - Vertrauen in andere - dass ich mir Hilfe hole, wenn ich sie brauche - dass ich im Grunde weiß, dass die anderen es gut mit mir meinen und so weiter.

»Ich bin ein Fan von Sportvereinen. Es ist großartig, was die ehrenamtlich Tätigen dort leisten und was den Kindern alles vermittelt wird.«

Dr. med. Susanne Schlüter-Müller

Kann man das nicht auch außerhalb des therapeutischen Rahmens zur Aufgabe einer Gesellschaft machen?

Dr. Schlüter-Müller: Ja. Deswegen bin ich so ein Fan von Sportvereinen. Es ist großartig, was die ehrenamtlich Tätigen dort leisten und was den Kindern alles vermittelt wird. Beim Fußball beispielsweise. Ich finde, Fußball ist oft die bessere Therapie. Mitspielende lernen Regeln und Sozialverhalten, sie lernen, sich unterzuordnen und Regeln zu befolgen. Egozentrismus ist da fehl am Platz. Da kann man so viel lernen, und selbst wenn der Papa daheim auf der Couch liegt und eine Depression hat und das Kind deshalb niemanden einladen kann, sind Erfolgserlebnisse und die Gemeinschaft da sehr resilienzfördernd. Aber es gibt nicht nur tolle Sportangebote, es wird auch viel angeboten mit Musik oder mit Kunst, oder in der Schule Nachmittagsangebote. Da braucht man, wenn es gut läuft, keine Therapie mehr, wenn diese Angebote Wirkung entfalten.

Also ist für Sie der Sportverein das Dorf, das die Kinder miterzieht – wenn auch nicht komplett, aber ein Baustein fürs Leben?

Dr. Schlüter-Müller: Ja, und wissen Sie, was so wichtig ist? Die Kinder machen außerhalb der Familie eine andere Beziehungserfahrung, und das erweitert das Spektrum der Emotionen stark. Wenn das Umfeld eines Kindes immer nur auf die Eltern reduziert wäre, die dann auch noch psychisch krank sind, dann kann es sich ja gar nicht vorstellen, dass es außerhalb dieser reduzierten Welt noch eine andere Welt gibt. Und darum ist es ja auch so wichtig, dass gerade Kinder, die vielleicht sozial schwierige Bedingungen oder Eltern mit Alkoholproblemen oder psychischen Erkrankungen haben, dass diese Kinder so lange wie möglich in den Kindergarten gehen und auch in der Schule die Nachmittagsbetreuung besuchen. Denn das ist fast immer besser als das, was dann da zu Hause passiert. Ich finde, dass sehr viel von der Gesellschaft bereits geleistet wird; dass es immer nicht genug ist, wissen wir ja; trotzdem muss man loben, dass sehr gute pädagogische Arbeit geleistet wird für die Kinder.

Themenschwerpunkt Psychische Gesundheit

Was könnte aber von der Gesellschaft noch besser gemacht werden?

Dr. Schlüter-Müller: Eine wichtige Maßnahme wäre, dass Kinder, die durch ihr Zuhause gefährdet sind, besser geschützt werden könnten, indem man etwa aufsuchend direkt nach der Geburt Familienhebammen in die Familie schickt. Verpflichtend, wenn nötig gegen den Willen der Eltern. Es bringt nichts, die Kinder aus der Familie zu nehmen, aber die Familie zu begleiten sehr wohl. Mir ist bewusst, das hört sich jetzt hart ein, aber nach 30 Jahren Berufserfahrung würde ich mir mehr staatliche Aufsicht wünschen.

Warum erachten Sie dies als wichtig?

Dr. Schlüter-Müller: Wenn ein Kind keine gute Kinderpflege erlebt hat, wird es selbst auch kein gutes Elternteil sein können, da es gar nicht wissen kann, wie das eigentlich geht, mütterlich zu sein, väterlich zu sein, also Zeichen der Kinder wahrzunehmen, da es das selbst nicht erlebt hat. In die Familien zu gehen, von Anfang an intensiv mit Familienhebammen zu gucken, wie sich zum Beispiel die Mutter beim Wickeln oder Stillen verhält, würde präventiv sehr viel Schaden abwenden. Wir haben dazu auch Studien selbst durchgeführt: Wenn sie etwa eine Wickelsituation mit einem Baby beobachten und sehen, dass die Mutter kein Wort mit dem Kind spricht, dann wissen wir: Das Kind hat keine blauen Flecken, das Kind hat auch eine saubere Windel an, wenn die Sozialarbeiterin kommt, und ist wahrscheinlich auch ausreichend genährt - aber es ist emotional vernachlässigt.

»Heute wissen wir, dass das, was im ersten Jahr passiert, nie mehr wiedergutgemacht werden kann. «

Dr. med. Susanne Schlüter-Müller

Heute wissen wir, dass das, was im ersten Jahr passiert, nie mehr wiedergutgemacht werden kann. Und da müsste bei Problemfällen oder Risikoumständen, beispielsweise Minderjährigen oder Borderline-Müttern, die ein Baby kriegen, ganz intensive Hilfe rein – auch, wenn die Mutter das nicht will, weil wir wissen, wie schädigend das für das Baby ist. Dasselbe bei drogensuchtkranken Müttern. Es ist schwer zu glauben, wie viele Frauen mit massiven Drogenproblemen immer noch ihre Babys bei sich haben. Ich sage nicht, das sind schlechte Menschen; aber es sind schlechte Mütter, wenn sie unter Drogeneinfluss stehen oder, wenn sie ein Craving haben, das Baby liegenlassen, um irgendwo Beikonsum zu kriegen. Wenn Sie ein Dreijähriges allein daheim lassen, ist es dramatisch, da es denkt, dass es wahrscheinlich für den Rest des Lebens immer allein bleiben wird und dass es selbst schuld daran ist, verlassen worden zu sein. Kinder in dem Alter beziehen alles auf sich. Aber wenn Sie ein drei Monate altes Baby allein zuhause lassen, ist es lebensbedrohlich, da es einfach verdurstet.

Craving heißt, wenn Suchtkranke den Druck haben, neuen Stoff zu besorgen, wenn Entzugserscheinungen kommen.

Das sehen Sie entsprechend als Aufgabe der Stadt und dem Gesundheitswesen. Allerdings ist ja dann auch die Politik gefordert, um die gesetzlichen Rahmen zu schaffen und die Töpfe dafür zu öffnen.

Dr. Schlüter-Müller: Richtig! In Frankfurt gibt es erfreulicherweise gar nicht so wenige Frühe-Hilfen-Angebote. Aber das Gesetz muss geändert werden. Die Frühen Hilfen müssen auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt werden, und da können Sie sich vorstellen, was für Gegenwind da kommt, wenn man das sagt. Das ist nicht so einfach. Aber es muss sein, weil Eltern, die am meisten Hilfe brauchen, lehnen meistens Angebote ab, weil ganz tief verborgen die Angst schlummert, ihnen könnte das Kind weggenommen werden.

Wie könnten generell Brücken zu Menschen geschlagen werden, die Hilfe nötig hätten, dies aber aus persönlichen oder kulturellen Gründen ablehnen? Wie könnte da Verständnis und eben auch Zugang geschaffen werden?

Dr. Schlüter-Müller: Das lässt sich so pauschal nicht sagen, leider. Beispielsweise wurden bei uns in der Praxis Menschen aus bis zu 40 Nationen behandelt, man hat das Gefühl, die Hilfe wird jetzt auch von anderen Kulturen angenommen. Anders sieht das bei Flüchtlingsfamilien aus. Da herrscht eine große Angst davor, sich, ich sag jetzt mal, in die Karten schauen zu lassen. Bildung ist natürlich auch ein Aspekt, und Sprachkenntnisse. Traditionen im Kopf erschweren den Prozess ebenfalls, etwa wenn gelernt wurde, dass Familienangelegenheiten nur in der Familie oder von Gott gelöst werden.

»Ich bin Anwältin der Kinder.«

Dr. med. Susanne Schlüter-Müller

Was wäre eine Lösung? Müssten Angebote breiter diversifiziert, bekannter gemacht und besser kommuniziert werden?

Dr. Schlüter-Müller: Auch in diesem Punkt würde ich nicht bei allem immer die Freiwilligkeit voraussetzen, vor allem nicht auf Kosten der Kinder. Ich bin Anwältin der Kinder, und ich kann sagen, das ist oft zum Schaden der Kinder, wenn immer nur auf Freiwilligkeit gesetzt wird. Konkrete Maßnahmen wären für mich ein kostenloser Pflichtbesuch des Kindergartens und verpflichtende Angebote wie Alphabetisierungskurse. Es kann nicht alles Aufgabe der Lehrer sein. Eine weitere Idee wären Bildungsgeschenke wie ein Kunst- oder Klavierkurs, und dass Rentner, die noch topfit sind, Paten der Familien werden, sich dort einbringen und unterstützen. Zu mir hat mal ein Kind gesagt, dass eine Kuh lila sei. Mich hat das erschüttert, aber das Kind hat es gedacht, da es noch nie eine echte Kuh gesehen hatte und nur die 'Milka-Kuh' kannte! Es gibt leider viel zu viele Haushalte, in denen kein einziges Buch steht; als Konsequenz haben manche Kinder versucht, wenn sie bei mir in der Praxis waren und wo es viele Kinderbücher gibt, eine Bücherseite zu wischen und zu zoomen.

Aus Ihrer Expertensicht: Wo sind Bedarfe?

Dr. Schlüter-Müller: Bedarfe sind ganz sicher da in Form von aufsuchender Arbeit bei Kindern mit einem psychisch kranken Elternteil. Das sind oft isolierte Familien, und die Kinder laden niemanden ein, wenn ein Elternteil erkrankt ist, weil sie sich schämen. Dafür habe ich 30 Jahre gekämpft, aber Krankenkassen haben das nie bezahlt, denn aufsuchende Arbeit ist Präventionsarbeit. Da gehen Fachkräfte zu denen nach Hause, die es gar nicht mehr schaffen, in die Praxis zu kommen, oder es auch nicht schaffen wollen. Ein weiterer Gedanke ist es, spezifisch stadtteilfokussiert auf die Bedarfe zu gucken.

Sollten das denn Therapeuten machen oder Sozialarbeiter, oder ein Team aus diesen beiden Berufsgruppen?

Dr. Schlüter-Müller: Ein Team fände ich gut. Das sollte man auch an Schulen etablieren, wie es in Höchst an einer Schule bereits der Fall ist: Da gab es so viele psychisch auffällige Kinder, aber die Eltern haben sich nicht drum gekümmert. Einmal im Monat wird jetzt dort eine Sprechstunde von einer Psychologin einer Beratungsstelle angeboten, und dann werden die allerschwierigsten Fälle vorstellig und die Therapeutin prüft, was gemacht werden kann. Generell finde ich das etwas Supergutes: wenn Professionelle in Schulen gehen.

Aber was passiert dann im Anschluss? Kinder kommen zu so einem Angebot, es wird festgestellt, dass unmittelbar Hilfe nötig ist, und dann?

Dr. Schlüter-Müller: Können Gruppentherapien angeboten werden, was die Versorgungsgerechtigkeit fördert, da fünf oder sechs Kinder gleichzeitig behandelt werden können und sie dadurch auch soziale Kompetenz und ein Miteinander in der Gruppe lernen. Ich finde es ebenfalls wichtig, dass in der Schule genau geguckt wird, ob es sich um ein pädagogisches oder therapeutisches oder gar psychiatrisches Problem handelt. Das wäre eine unglaublich gute Vorsondierung; nicht alle Kinder brauchen Therapie, bei weitem nicht. Auch wenn sie auffällig sind, ist es nicht immer Therapie, was heilt. Manchmal brauchen die Eltern intensive Unterstützung. Und das Kind braucht dann plötzlich gar nichts mehr. Noch ein Wort zur Versorgungsgerechtigkeit: Wenn alle Therapeuten der Not nach und nicht der Einfachheit nach behandeln würden, hätten wir nicht so einen langen Wartestau. Es ist auch nicht gerecht, dass manche Kinder drei Jahre behandelt werden, und andere kriegen drei Jahre keinen Platz. Das ist aber eine andere Diskussion.

»Je kränker sie sind, desto weniger werden sie versorgt.«

Dr. med. Susanne Schlüter-Müller

Wie ist denn der Versorgungsgrad in Frankfurt?

Dr. Schlüter-Müller: In Frankfurt herrscht Überversorgung; deswegen darf sich ja auch niemand mehr neu niederlassen. Ich weiß auch, dass wir Kinderpsychiater unterversorgt sind, da sind Stellen und Kassensitze frei, weil ja gefühlt niemand mehr Kinderpsychiater werden mag aufgrund der verhältnismäßig schlechten Bezahlung. Als Konsequenz bekommen Menschen mit leichteren psychischen Störungsbildern leichter einen Psychotherapieplatz als ein richtig Schwerkranker einen Psychiatrie-Versorgungsplatz. Je kränker sie sind, desto weniger werden sie versorgt. Es muss ja eine gewisse kognitive und psychische Voraussetzung gegeben sein, um in einer Therapie einsichtorientiert arbeiten zu können. Wenn jemand aber eine floride Psychose hat und Stimmen hört, da können sie keine Psychotherapie machen, da braucht die Person einen guten Psychiater, der Medikamente verordnet und mit ihr redet. Doch aufgrund der Unterversorgung gestaltet sich die Behandlung schwierig, und deswegen bekommen die wirklich Kranken am wenigsten, und je gesünder man ist, desto mehr erhält man. Das ist doch ungerecht!

Was wäre der Weg, um Gerechtigkeit wiederherzustellen?

Dr. Schlüter-Müller: Die psychiatrisch Kranken haben keine Lobby, und der psychiatrische Nachwuchs fehlt. Ein Freund von mir sagte mal, an uns Psychiatern klebt immer irgendwie ein bisschen der Wahnsinn, wie am Totengräber immer ein bisschen der Tod klebt. Die jungen Kollegen in Deutschland, die wollen nicht mehr Psychiater werden. Ich arbeite sehr viel im Kosovo, in Bosnien, schon damals zu Zeiten des Krieges, dort ist es noch sehr hoch angesehen, wenn man Psychiater wird. Bei uns will sich gefühlt niemand mehr die Finger schmutzig machen, und so haben wir auch keine Lobby in der kassenärztlichen Vereinigung, wo über die Verteilung des Budgets entschieden wird. Warum kriegen nicht alle Ärzte gleich viel? Warum kriegen Radiologen das Zehnfache eines Psychiaters? Ist doch nicht richtig, aber da geht es natürlich um Lobbyarbeit, das ist Berufspolitik, und das ist nicht gerecht.

»Was passiert eigentlich mit den Kindern, solange die Mutter mit ihrer akuten Suizidalität auf der Station liegt?«

Dr. med. Susanne Schlüter-Müller

Dabei ist die Behandlung dieser kranken Menschen doch eine unglaublich wichtige Maßnahme?

Dr. Schlüter-Müller: Ist es. Immerhin haben wir erreicht, dass in psychiatrischen Kliniken, wenn erwachsene Männer oder Frauen akut eingeliefert werden, überhaupt schon mal gefragt wird, ob sie Kinder haben. Das hat man früher gar nicht gefragt, das müssen Sie sich mal vorstellen. Denn was passiert eigentlich mit den Kindern, solange die Mutter mit ihrer akuten Suizidalität auf der Station liegt? Früher hat kein Mensch danach gefragt. Da würde ich auch gerne den Professor Reif von der der Uniklinik nennen. Ein ganz toller Kollege, der viel nach den Kindern der Kranken schaut und auch versucht, Kontakte herzustellen zur Einrichtung, die Kinder von psychisch kranken Eltern betreut. Da gibt's schon eine ganze Menge, auch von der Stadt und Trägern wie der Caritas. Das ist ganz wichtig für das Kind, dass es einen Ort hat, wo es darüber sprechen kann, wo es andere Kinder trifft, die so einen Umstand auch kennen von Zuhause. Das ist auch nötig, denn oft wollen Eltern nach ihrer Entlassung aus der Klinik nichts mehr mit ihrer psychischen Krankheit zu tun haben. Viele versuchen, das zu verbergen. Keiner spricht gerne über seine psychische Krankheit. Auch die Kinder nicht. Die sagen nicht: "Die Mama ist heute Nacht in die Klapse gekommen.“ Stattdessen sagen sie, die Mama sei die Treppe runtergefallen, habe sich das Bein gebrochen, und sei deshalb im Krankenhaus.

Da ist die Angst vor dem Stigma noch zu groß?

Dr. Schlüter-Müller: Absolut! Kinder riechen das, die wissen das auch. Egal wie klein sie sind, sie wissen schon, dass das Stigma ist. Entsprechend: Anti-Stigma-Kampagnen für psychisch Kranke fände ich gut. Ich war kürzlich in der Schweiz, weil ich da immer wieder Psychotherapiefortbildungen gebe, und in Basel wurde eine tolle Kampagne in allen Straßen durchgeführt, etwa Plakate mit einem Kind mit einem Gips mit vielen Unterschriften von Freunden drauf, und es steht darunter, dass, wenn man psychisch krank ist, es eben keine Möglichkeit gibt, sich Unterschriften auf einen Gips schreiben zu lassen, es aber auch eine Krankheit ist. Ganz toll! Ich finde das unglaublich wichtig. So, wie man heute in den Schulen über Kinderrechte aufgeklärt wird, so sollten wir auch über psychische Gesundheit oder psychische Erkrankungen Aufklärung betreiben in den Schulen. Damit Kinder Bescheid wissen und das Stigma gebrochen wird.

»In jeder Klasse ist jemand mit einem psychischen Problem.«

Dr. med. Susanne Schlüter-Müller

Wie sollte vorgegangen werden?

Dr. Schlüter-Müller: Ich fände es gut, wenn Experten von außen kämen im Rahmen von Aktionswochen. Ich habe das auch früher öfter gemacht, auch wenn man aufpassen muss, dass beispielsweise nach einem Suizid in der Schule nicht der Werther-Effekt, also ein Nachahmungseffekt eintritt, wenn zuviel darüber gesprochen wird.

Ist das aber angesichts der vollen Lehrpläne realistisch und machbar?

Dr. Schlüter-Müller: Ich persönlich glaube, dass sich das für eine Schule auf jeden Fall auszahlt. In jeder Klasse ist jemand mit einem psychischen Problem. Das können Sie sich ausrechnen, 17 Prozent der Jugendlichen und Kinder haben ein psychisches Problem, und etwa acht Prozent sind behandlungsbedürftig. Es lohnt sich zu 100 Prozent, ja.

Würden Sie sich das wünschen von der Politik? Mehr Bildung für psychische Gesundheit, mehr Aufmerksamkeit auf das Thema?

Dr. Schlüter-Müller: Fände ich außerordentlich wichtig. Wenn die Kinder und Jugendlichen einmal gelernt haben, dass sie in ihrer Klasse darüber reden dürfen und es eine normale Erkrankung ist, dann verlieren sie vielleicht auch die Scheu, ihr Leid dem Vertrauenslehrer zu erzählen; wenn sie plötzlich hören, es gibt sogar einen Namen für ihr Gefühl, da gibt's sogar Behandler dafür - ich glaube, dass das die Hemmschwelle senkt.

Dann aber sollte natürlich auch die Möglichkeit gegeben sein, dass, wenn es jemand merkt, dass es offene Türen gibt und nicht nur geschlossene, weil kein Platz und Wartezeit et cetera.

Dr. Schlüter-Müller: Ja, ja, absolut ja, das müsste es geben, und ich fände eine Kooperation gut zwischen Psychotherapeuten, Kinderpsychiatern, Pädagogen und Schule; dass man sagt, man bietet einen schnellen Termin an, dass man abklären kann, wie dringlich es ist. Das wäre doch eine unglaublich sinnvolle Arbeit!

Was kostet es, so ein Triumvirat beispielsweise einmal wöchentlich in die Schule zu schicken?

Dr. Schlüter-Müller: Ich würde das immer ehrenamtlich machen. Gerade in den Vormittagsstunden haben die Therapeuten ja oft eher Zeit. Möglich wäre natürlich auch eine Mischfinanzierung: Leute, die es brauchen und nötig haben, bezahlt zu werden, bekommen ein Honorar, und Leute wie ich bieten das ehrenamtlich an.

Kommen wir zur Abschlussfrage: Was muss getan werden? Von der Politik, vom Gesundheitswesen, von der Stadt und von freien Playern wie Stiftungen.

Dr. Schlüter-Müller: Ich als Kinderpsychiaterin sage, es muss viel mehr auf psychische Gesundheit geachtet werden, und das Stigma rausgenommen werden. Antistigmatisierungskampagnen finde ich sehr gut. Es muss sehr viel mehr Vernetzung stattfinden zwischen Politik, Gesundheitspolitik, Gesundheitsamt und Niedergelassenen, und es muss ganz viel in die Prävention gesteckt werden, daran mangelt es am allermeisten. Das ist Politik, das muss die Politik entscheiden. Und sollte es vom Staat kein Geld geben, wäre es durchaus ein Weg, Stiftungen und Mäzene anzusprechen und so Förderer zu finden, die sich das mit der psychischen Gesundheit von Kindern und der Anti-Stigmatisierung auf die Fahnen schreiben. Das wäre super und ein Gewinn für die ganze Gesellschaft.

Vielen Dank für das Gespräch.