»Je kränker sie sind, desto weniger werden sie versorgt.«
Dr. med. Susanne Schlüter-Müller
Wie ist denn der Versorgungsgrad in Frankfurt?
Dr. Schlüter-Müller: In Frankfurt herrscht Überversorgung; deswegen darf sich ja auch niemand mehr neu niederlassen. Ich weiß auch, dass wir Kinderpsychiater unterversorgt sind, da sind Stellen und Kassensitze frei, weil ja gefühlt niemand mehr Kinderpsychiater werden mag aufgrund der verhältnismäßig schlechten Bezahlung. Als Konsequenz bekommen Menschen mit leichteren psychischen Störungsbildern leichter einen Psychotherapieplatz als ein richtig Schwerkranker einen Psychiatrie-Versorgungsplatz. Je kränker sie sind, desto weniger werden sie versorgt. Es muss ja eine gewisse kognitive und psychische Voraussetzung gegeben sein, um in einer Therapie einsichtorientiert arbeiten zu können. Wenn jemand aber eine floride Psychose hat und Stimmen hört, da können sie keine Psychotherapie machen, da braucht die Person einen guten Psychiater, der Medikamente verordnet und mit ihr redet. Doch aufgrund der Unterversorgung gestaltet sich die Behandlung schwierig, und deswegen bekommen die wirklich Kranken am wenigsten, und je gesünder man ist, desto mehr erhält man. Das ist doch ungerecht!
Was wäre der Weg, um Gerechtigkeit wiederherzustellen?
Dr. Schlüter-Müller: Die psychiatrisch Kranken haben keine Lobby, und der psychiatrische Nachwuchs fehlt. Ein Freund von mir sagte mal, an uns Psychiatern klebt immer irgendwie ein bisschen der Wahnsinn, wie am Totengräber immer ein bisschen der Tod klebt. Die jungen Kollegen in Deutschland, die wollen nicht mehr Psychiater werden. Ich arbeite sehr viel im Kosovo, in Bosnien, schon damals zu Zeiten des Krieges, dort ist es noch sehr hoch angesehen, wenn man Psychiater wird. Bei uns will sich gefühlt niemand mehr die Finger schmutzig machen, und so haben wir auch keine Lobby in der kassenärztlichen Vereinigung, wo über die Verteilung des Budgets entschieden wird. Warum kriegen nicht alle Ärzte gleich viel? Warum kriegen Radiologen das Zehnfache eines Psychiaters? Ist doch nicht richtig, aber da geht es natürlich um Lobbyarbeit, das ist Berufspolitik, und das ist nicht gerecht.
»Was passiert eigentlich mit den Kindern, solange die Mutter mit ihrer akuten Suizidalität auf der Station liegt?«
Dr. med. Susanne Schlüter-Müller
Dabei ist die Behandlung dieser kranken Menschen doch eine unglaublich wichtige Maßnahme?
Dr. Schlüter-Müller: Ist es. Immerhin haben wir erreicht, dass in psychiatrischen Kliniken, wenn erwachsene Männer oder Frauen akut eingeliefert werden, überhaupt schon mal gefragt wird, ob sie Kinder haben. Das hat man früher gar nicht gefragt, das müssen Sie sich mal vorstellen. Denn was passiert eigentlich mit den Kindern, solange die Mutter mit ihrer akuten Suizidalität auf der Station liegt? Früher hat kein Mensch danach gefragt. Da würde ich auch gerne den Professor Reif von der der Uniklinik nennen. Ein ganz toller Kollege, der viel nach den Kindern der Kranken schaut und auch versucht, Kontakte herzustellen zur Einrichtung, die Kinder von psychisch kranken Eltern betreut. Da gibt's schon eine ganze Menge, auch von der Stadt und Trägern wie der Caritas. Das ist ganz wichtig für das Kind, dass es einen Ort hat, wo es darüber sprechen kann, wo es andere Kinder trifft, die so einen Umstand auch kennen von Zuhause. Das ist auch nötig, denn oft wollen Eltern nach ihrer Entlassung aus der Klinik nichts mehr mit ihrer psychischen Krankheit zu tun haben. Viele versuchen, das zu verbergen. Keiner spricht gerne über seine psychische Krankheit. Auch die Kinder nicht. Die sagen nicht: "Die Mama ist heute Nacht in die Klapse gekommen.“ Stattdessen sagen sie, die Mama sei die Treppe runtergefallen, habe sich das Bein gebrochen, und sei deshalb im Krankenhaus.
Da ist die Angst vor dem Stigma noch zu groß?
Dr. Schlüter-Müller: Absolut! Kinder riechen das, die wissen das auch. Egal wie klein sie sind, sie wissen schon, dass das Stigma ist. Entsprechend: Anti-Stigma-Kampagnen für psychisch Kranke fände ich gut. Ich war kürzlich in der Schweiz, weil ich da immer wieder Psychotherapiefortbildungen gebe, und in Basel wurde eine tolle Kampagne in allen Straßen durchgeführt, etwa Plakate mit einem Kind mit einem Gips mit vielen Unterschriften von Freunden drauf, und es steht darunter, dass, wenn man psychisch krank ist, es eben keine Möglichkeit gibt, sich Unterschriften auf einen Gips schreiben zu lassen, es aber auch eine Krankheit ist. Ganz toll! Ich finde das unglaublich wichtig. So, wie man heute in den Schulen über Kinderrechte aufgeklärt wird, so sollten wir auch über psychische Gesundheit oder psychische Erkrankungen Aufklärung betreiben in den Schulen. Damit Kinder Bescheid wissen und das Stigma gebrochen wird.
»In jeder Klasse ist jemand mit einem psychischen Problem.«
Dr. med. Susanne Schlüter-Müller
Wie sollte vorgegangen werden?
Dr. Schlüter-Müller: Ich fände es gut, wenn Experten von außen kämen im Rahmen von Aktionswochen. Ich habe das auch früher öfter gemacht, auch wenn man aufpassen muss, dass beispielsweise nach einem Suizid in der Schule nicht der Werther-Effekt, also ein Nachahmungseffekt eintritt, wenn zuviel darüber gesprochen wird.
Ist das aber angesichts der vollen Lehrpläne realistisch und machbar?
Dr. Schlüter-Müller: Ich persönlich glaube, dass sich das für eine Schule auf jeden Fall auszahlt. In jeder Klasse ist jemand mit einem psychischen Problem. Das können Sie sich ausrechnen, 17 Prozent der Jugendlichen und Kinder haben ein psychisches Problem, und etwa acht Prozent sind behandlungsbedürftig. Es lohnt sich zu 100 Prozent, ja.
Würden Sie sich das wünschen von der Politik? Mehr Bildung für psychische Gesundheit, mehr Aufmerksamkeit auf das Thema?
Dr. Schlüter-Müller: Fände ich außerordentlich wichtig. Wenn die Kinder und Jugendlichen einmal gelernt haben, dass sie in ihrer Klasse darüber reden dürfen und es eine normale Erkrankung ist, dann verlieren sie vielleicht auch die Scheu, ihr Leid dem Vertrauenslehrer zu erzählen; wenn sie plötzlich hören, es gibt sogar einen Namen für ihr Gefühl, da gibt's sogar Behandler dafür - ich glaube, dass das die Hemmschwelle senkt.
Dann aber sollte natürlich auch die Möglichkeit gegeben sein, dass, wenn es jemand merkt, dass es offene Türen gibt und nicht nur geschlossene, weil kein Platz und Wartezeit et cetera.
Dr. Schlüter-Müller: Ja, ja, absolut ja, das müsste es geben, und ich fände eine Kooperation gut zwischen Psychotherapeuten, Kinderpsychiatern, Pädagogen und Schule; dass man sagt, man bietet einen schnellen Termin an, dass man abklären kann, wie dringlich es ist. Das wäre doch eine unglaublich sinnvolle Arbeit!
Was kostet es, so ein Triumvirat beispielsweise einmal wöchentlich in die Schule zu schicken?
Dr. Schlüter-Müller: Ich würde das immer ehrenamtlich machen. Gerade in den Vormittagsstunden haben die Therapeuten ja oft eher Zeit. Möglich wäre natürlich auch eine Mischfinanzierung: Leute, die es brauchen und nötig haben, bezahlt zu werden, bekommen ein Honorar, und Leute wie ich bieten das ehrenamtlich an.
Kommen wir zur Abschlussfrage: Was muss getan werden? Von der Politik, vom Gesundheitswesen, von der Stadt und von freien Playern wie Stiftungen.
Dr. Schlüter-Müller: Ich als Kinderpsychiaterin sage, es muss viel mehr auf psychische Gesundheit geachtet werden, und das Stigma rausgenommen werden. Antistigmatisierungskampagnen finde ich sehr gut. Es muss sehr viel mehr Vernetzung stattfinden zwischen Politik, Gesundheitspolitik, Gesundheitsamt und Niedergelassenen, und es muss ganz viel in die Prävention gesteckt werden, daran mangelt es am allermeisten. Das ist Politik, das muss die Politik entscheiden. Und sollte es vom Staat kein Geld geben, wäre es durchaus ein Weg, Stiftungen und Mäzene anzusprechen und so Förderer zu finden, die sich das mit der psychischen Gesundheit von Kindern und der Anti-Stigmatisierung auf die Fahnen schreiben. Das wäre super und ein Gewinn für die ganze Gesellschaft.
Vielen Dank für das Gespräch.