Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jungen Paulskirche sind im Rahmen ihrer Abschlussfahrt für drei Tage nach Berlin gefahren. Nila Minneker berichtet von der aufregenden, vielfältigen Reise, die auch einen Ausflug zur Gedenkstätte Hohenschönhausen, der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt der Stasi, auf der Tagesordnung hatte.
Donnerstag, 15. Juli 2021
6 Uhr. Der Wecker klingelt. Schnell noch ein paar Sachen in den Koffer gepackt und los geht’s. Berlin ruft. Beim Treffpunkt am Willy-Brandt-Platz sind die meisten schon da. Die Stimmung ist herzlich und vertraut, obwohl wir uns alle erst ein einziges Mal, bei der Abschlussveranstaltung Ende Mai, persönlich getroffen haben – die vorherigen neun Monate Junge Paulskirche fanden digital statt. Wir alle sind unglaublich gespannt auf die drei Tage Berlin, die vor uns liegen und vor allem darauf, die Gruppe endlich einmal besser kennenzulernen.
Um kurz nach sieben heißt es dann: Berlin, wir kommen!
Sieben Stunden Fahrt hören sich für uns erstmal unfassbar lange an, aber schon die erste Stunde vergeht wie im Flug, weil sechzehn Jugendliche und drei Erwachsenen viel zu erzählen haben. Die Gesprächsthemen sind vielfältig: Von einer hitzigen Debatte über das beste Haustier bis hin zur tagesaktuellen Politik in Frankfurt, der anstehenden Bundestagswahl oder den besten veganen Dönern in Kreuzberg – auf der Busfahrt war wirklich für jeden etwas dabei. Mit einer kleinen Umfrage zur Wahl, bei der die Grünen klar als stärkste Kraft hervorgingen und Christian Lindner bei der Frage, welche Politiker mehr Beachtung finden sollten, als Sieger hervorging, wurde der Grundstein für weitere spannende und natürlich hochpolitische Diskussionen gelegt. Kurzum: Es gab einfach viel zu diskutieren, debattieren, lachen und erleben! Selbst wenn man gerade mal nichts beizutragen hatte, stand die inhaltliche Vorbereitung des Berlinaufenthaltes, natürlich arbeitsteilig und mit Unterstützung der Projektleitung in Person von Katharina Kanold, Helge Eikelmann und Marcus Kiesel, auf dem Programm.
Sieben Stunden, einige Pausen und 100 Diskussionen später waren wir dann endlich Berliner, zumindest für die kommenden 72 Stunden.
Von den Sitzen im Bus aus ging es für uns dann auch direkt auf die Stufen des Paul-Löbe-Hauses an der Spree. Ulli Nissen, das Energiebündel in Rot und SPD-Bundestagsabgeordnete aus Frankfurt, die auch an der Abschlussveranstaltung in der Paulskirche partizipierte, erwartete uns bereits mit großem Enthusiasmus. Nun konnten wir Ulli mit unseren Fragen löchern. Einmal mehr machte sie während unseres Gesprächs klar, wie wichtig es sei, sich zu engagieren und selbst laut zu werden, wenn man etwas verändern möchte. "Hingehen, zuhören, handeln" sei quasi das Motto ihrer, wie sie es nennt, 'Lebensaufgabe Politik', der sie eben nicht nur in der Berliner Blase, sondern in ganz Deutschland und insbesondere in Frankfurt nachgehen möchte. Ihr Ausscheiden aus dem Bundestag in diesem Jahr stimme sie zwischenzeitlich traurig: "Wer soll denn dann meine Zwischenrufe gegen die AfD übernehmen?", fragte sie uns. Dennoch war sie aber auch sichtlich stolz, dass sogar der Parlamentspräsident Schäuble ihre unverkennbar direkte Art im Bundestag vermissen werde.
Während sich ein Teil der Gruppe mit Ulli Nissen unterhielt, ging ein anderer Teil in den Bundestag, um an einer Führung teilzunehmen. Es war wirklich beeindruckend, die 'heiligen Hallen' von innen bestaunen zu können, auch wenn wir nicht die Chance hatten, selbst mal auf den blauen Stühlen zu Füßen des Bundesadlers Platz zu nehmen.
Bei viel Sonnenschein ging es dann weiter zum Check-In ins Hostel und anschließend zum Abendessen mit Dr. Christian Trippe, Leiter der Abteilung Osteuropa der Deutschen Welle (DW).
Bei Schnitzel, Flammkuchen und Co. konnten wir auch ihm viele Fragen stellen. Interessant war dabei, dass die DW in den jeweiligen (osteuropäischen) Ländern die Hauptinformationsquelle für deren innenpolitische Nachrichten ist. Die Berichte sind natürlicher immer aus einer europäischen bzw. deutschen oder einfach westlichen Sichtweise geschrieben. Interessierte gebe es aber dennoch genug. Dr. Trippe selbst ging zur Deutschen Welle, weil er während des Kalten Krieges im Westen gewohnt hatte und über den Osten so gut wie nichts Aktuelles herausfinden konnte. Mit seiner Arbeit in der Abteilung Osteuropa wollte er für sich ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Heute schreibe er kaum mehr selbst Artikel, erzählte Dr. Trippe. Vielmehr koordiniere und manage er die journalistische Arbeit der Deutschen Welle in und über Osteuropa. Aktuell heiße das abzuwägen, wie riskant die Arbeit in den einzelnen Ländern sei, denn nicht selten geraten seine Mitarbeiter – wie aktuell in Belarus – in Haft. Es gelte, sie so gut es geht zu schützen, meist sogar mit Pseudonymen. "Aufgrund der schwierigen Situation in einigen Teilen Osteuropas bin ich für meine 120 Mitarbeiter auch rund um die Uhr erreichbar", so Dr. Trippe.
Mit vollem Magen und viel neuem Wissen ging es dann zurück ins Hostel. Für uns hieß das: Freizeit bis Mitternacht. Die einen nutzten die Gelegenheit, um Schlaf nachzuholen, andere zogen los, um die Gegend um das Hostel zu erkunden oder den Abend mit einem Eis an der Spree und netten Gesprächen ausklingen zu lassen.
»Für uns als Nachgeborene war es beängstigend zu hören und zu sehen, was solche Menschen, die sich schlicht und einfach nach Freiheit sehnten, durchmachen mussten, wenn sie gefangen genommen wurden.«
Freitag, 16. Juli 2021
Am Freitag wachten wir mitten in Berlin auf. Während unsere Freundinnen und Freunde in der Schule ihr Zeugnis abholten, war es für uns Zeit fürs Frühstück. Am Tisch schienen alle noch recht müde, aber nach zwei Tassen Kaffee waren wir bereit für den Tag. Denn wir hatten viel vor!
Zuerst ging es zur Gedenkstätte Hohenschönhausen, der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt der Stasi, wo wir in Gruppen von zwei Zeitzeugen und ehemaligen Gefangenen eine Führung erhielten.
Einer von ihnen, Peter Keup, wurde damals kurz vor seinem direkten Fluchtversucht im Alter von 22 Jahren verhaftet und kam dann in Dresden in ein Gefängnis der Staatssicherheit der DDR, das Hohenschönhausen sehr ähnlich war. Er erlebte dort vor allem psychische Gewalt. "Ab dem Zeitpunkt der Verhaftung hatte man keinen Kontakt mehr zu Menschen, die nicht der Stasi angehörten oder für diese arbeiteten", berichtete er uns. Die Zellen waren winzig, der Ausgang auf 30 Minuten begrenzt und die knallblauen Anzüge, die einem mit den orangekarierten Pantoffeln bewusst in der falschen Größe gegeben wurden, sorgten für ein Gefühl von Erniedrigung. Fenster gab es oft bewusst nur in dem Vorzimmer zum Raum des Verhörs, um die Gefangenen emotional zu zermürben und sie dazu zu bewegen, zu reden bzw. Mitwisserinnen und Mitwisser auszuliefern. In dem gesamten Gefängnis roch es chemisch aufgrund der Linoleumböden, die auf eine ganz perfide Art und Weise mit ihren Blümchenmustern ein Gefühl von Heimat auslösen sollen. Das Ganze ging so weit, so erzählt Peter Keup, dass er sich sogar jedes Mal auf sein Verhör freute, denn das Verlangen nach menschlichem Kontakt war unbeschreiblich groß.
Für uns als Nachgeborene war es beängstigend zu hören und zu sehen, was solche Menschen, die sich schlicht und einfach nach Freiheit sehnten, durchmachen mussten, wenn sie gefangen genommen wurden. Immerhin gelang es der BRD durch ein Abkommen mit der DDR, Häftlinge freizukaufen und dadurch von der Inhaftierung zu erlösen, so auch Peter Keup, für den sie damals etwas um die 50.000 D-Mark zahlte.
Nach der sehr eindrucksvollen und spannenden Führung durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen ging es dann zum Mittagessen in ein berühmtes Berliner Lokal mit zahlreichen gerahmten Fotos von Politikern an den Wänden. Der Deal: Wer auf den Bildern im Restaurant zehn Personen identifizieren kann, bekommt von Helge das Mittagessen bezahlt.
Nach dem Mittagessen ging es dann in den Englischen Garten, nahe Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräsidenten, wo wir uns mit Ministerialrat Prof. Dr. Stefan Pieper trafen, dem Leiter des Referats Verfassung und Recht des Bundespräsidialamts. Er berichtete, dass ihm an seinem Beruf besonders die praktische Anwendung seines Studiums der Rechtswissenschaften gefiele. Als Berater für rechtliche Fragen stehe er in engem Kontakt zum Bundespräsidenten, welcher in der Bundesrepublik Deutschland zwar das Staatsoberhaupt ist, sich aber von der Tages- und Parteipolitik fernhält und eher eine repräsentative Rolle einnimmt. Die Frage, ob der Bundespräsident ersetzbar sei, bejahte Prof. Pieper, weil die Aufgaben des Bundespräsidenten theoretisch auch der Kanzlerin oder dem Kanzler zugetragen werden könnten. Jedoch habe der Bundespräsident in unserem Staat einen bedeutenden symbolischen Stellenwert. Außerdem würde eine Kompetenzübertragung auf die Bundeskanzlerin oder den Bundeskanzler eine erhebliche Mehrbelastung darstellen und die Überparteilichkeit, die eine Bundespräsidentin oder einen Bundespräsidenten ausmache, könne nicht mehr gewährleistet werden.
Nach einer kurzen Fotosession vor dem Schloss Bellevue ging es für uns dann direkt in das Hotel Dietrich-Bonhoeffer-Haus. Hier tagte 1989 im "Kirchensaal" der sogenannte Runde Tisch, an dem einst Vertreter der SED, Oppositionen und der Kirche über die Zukunft der DDR und eine mögliche Demokratisierung sowie eine neue Verfassung berieten. Dort hatten wir die Chance, mit dem Zeitzeugen Stephan Hilsberg, ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages, Mitbegründer der ostdeutschen SDP und Mitinitiator des Runden Tischs, ins Gespräch zu kommen.
Er klärte uns in Kurzform über die Historie des Runden Tisches auf. Schwerpunkt unseres Gesprächs war auch die immer noch bestehende Diskrepanz zwischen Ost und West. Für Herrn Hilsberg stehe aber ganz klar fest: Die Lösung dieses Konflikts liege in der Hand der Bürgerinnen und Bürger selbst. Es müsse aufgehört werden, sich über vorherrschende Unterschiede nur zu beschweren. Stattdessen solle man der Vernunft folgen und das Problem selbst angehen und im ständigen Diskurs bleiben, beispielsweise durch politisches Engagement. Denn der Bundestag, so Hilsberg, sei die Bühne des Volkes – jeder könne mitmachen. Dennoch steckten die Differenzen tief in den Menschen und gänzlich seien diese wohl niemals zu beseitigen.
Im Rückblick auf seine eigene Zeit als Abgeordneter im Bundestag merkte er an, dass er selbst Demokratie erst einmal von Grund auf neu lernen musste und wenig auf seine politischen Erfahrungen in der DDR, einer sozialistischen Diktatur, zurückgreifen konnte.
Nach diesem sehr interessanten Austausch stand uns der Abend zur freien Verfügung. In Kleingruppen haben wir Berlin erkundet. 10.000 Schritte später kamen wir dann müde, aber glücklich von dem spannenden Tag und lustigem Abend zurück ins Hostel.
Samstag, 17. Juli 2021
7.30 Uhr – der Wecker klingelte. Es war Samstag und leider Tag der Abreise. Nach dem Frühstück hieß es dann Koffer packen und auf zum Campus der Freien Universität Berlin, wo wir abermals von Peter Keup erwartet wurden, der uns eine Führung gab. Während der Teilung Berlins wurde auf Initiative der Alliierten die Freie Universität als geisteswissenschaftliches Gegenstück zur Humboldt Universität gegründet. Denn viele Personen aus dem Westen, die zum Studieren nach Ostberlin gingen, wurden dort festgenommen. Die Freie Universität Berlin stehe für einen grenzenlosen und freien Geist, so Keup, weil hier durch die Studentenproteste ein Keim für die 68er-Bewegung gelegt wurde. Bis heute sei die Freie Universität Berlin im Gegensatz zur Humboldt Universität tagespolitisch sehr aktiv und scheue es nicht, sich beispielsweise mit Flaggen klar zu positionieren. Nach unserer Reise kam Berlin im Lebensplan für mindestens die Hälfte von uns als favorisierter Ort zum Studieren oder Leben vor.
Um den intellektuellen/bildenden Teil unserer Reise abzuschließen, ging es dann zum Alliierten-Museum in Berlin Dahlem. Dort erhielten wir eine spannende Führung mit dem Schwerpunkt Luftbrücke. Im Rahmen unseres Besuches durften wir eines der wenigen noch erhaltenen britischen Flugzeuge besichtigen, die einst Teil der Luftbrücke waren. Außerdem lagen wir auf den Betten eines französischen Offizier-Waggons und besichtigten eine amerikanische Grenzkontrollstation. Besonders spannend war auch, dass man im Museum zu einem differenzierten Bild über das Kriegsende und den Einmarsch der Alliiertengelangen konnte.
In Form von Sprechblasen von Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen hatten wir so die Möglichkeit, uns selbst eine fundierte Meinung zu bilden, ob und für wen das Kriegsende 1945 nun Befreiung, Erlösung, Sieg oder Niederlage war. Auch die schlechte Aufarbeitung unserer NS-Vergangenheit, die Probleme bei der Entnazifizierung Deutschlands und die Rolle der Kirche beim Entkommen hochrangiger NS-Funktionäre haben wir während unserer Führung aufgegriffen.
Zum Abschluss ging es dann zu einem letzten gemeinsamen Mittagessen mit Peter Keup. Bei Pizza, Pasta und netten Gesprächen ließen wir unsere dreitägige Erkundungstour Berlins noch einmal Revue passieren. Am Ende erlebten wir dann noch eine kleine Überraschung, als wir bemerkten, dass Gesundheitsminister Jens Spahn auch in unserem Restaurant zu Mittag aß. Noch schnell ein kurzes Foto und dann hieß es auch schon ab in den Bus nach Frankfurt.
Auf unserer Fahrt zurück musste Helge uns dann Rede und Antwort zu seinem Werdegang stehen. Neben Diskussionen über unsere eigene berufliche Zukunft, wurde auf der Busfahrt auch viel geschlafen oder über das Leben philosophiert.
20.30 Uhr – die Frankfurter Skyline ist in Sicht. Mit vielen schönen Erinnerungen, wahnsinnig interessanten Begegnungen, spannenden Gesprächen und Diskussionen und vielen neuen Freundinnen und Freunden hieß es dann: auf Wiedersehen!