Junge Paulskirche

Einladung zum Perspektivwechsel

17. März 2023, von Karoline Leibfried

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Bei den "Paulskirchendebatten" handelt es sich um Workshops zu verschiedenen Fragestellungen mit aktuellem Bezug, bei denen mit Verve diskutiert, argumentiert und am Ende ein Konsens gefunden werden soll. Wir begleiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Debatte zum Thema "Geben und Nehmen - Darf ein (Sozial-)Staat ein Pflichtjahr verlangen?".

Sie sitzen einander in zwei doppelten Stuhlreihen an einem langen Tisch gegenüber – viele von ihnen haben ein Tablet vor sich liegen, andere halten einen Stift und Collegeblock bereit; die 18 Schülerinnen und Schüler sprechen zunächst noch durch- und miteinander über ihren Tag, bis sie plötzlich ihren Blick konzentriert zum Kopfende des Tisches richten: "So, dann wollen wir mal anfangen. Ich begrüße euch zur dritten Debatte in unserem Programm", empfängt Marcus Kiesel von Die Politiksprecher e. V. die Jugendlichen. Sie alle nehmen an dem Demokratiebildungsprogramm "Junge Paulskirche. Schülerforum zu Demokratie und Verfassung" teil, das die Stiftung Polytechnische Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Verein Die Politiksprecher e. V. durchführt. "Heute geht es um die Frage: Geben und Nehmen - Darf ein (Sozial-)Staat ein Pflichtjahr verlangen?"

Sein Kollege Helge Eikelmann schließt seinen Laptop an, der mit den Screens an den Wänden des Raums der Stiftung verbunden ist – und auf den Bildschirmen erscheint eine Umfrage zur Abstimmung: "Sollte die Bundesregierung ein soziales Dienstjahr einführen?" Die Jugendlichen zücken ihr Handy und stimmen ab: 12 Prozent stimmen für "Ja, sowohl Sozial- als auch Wehrpflicht"; 18 Prozent stimmen für "Ja, nur das soziale Dienstjahr", 0 Prozent für "Ja, nur die Wehrpflicht", und 71 Prozent stimmen für "Nein, keine Verpflichtung".

Zwei Fraktionen, zwei Positionen

"Dann wollen wir mal", startet Marcus Kiesel. Eine Hälfte der Schülerinnen und Schüler gehört an diesem Abend "seiner Fraktion" an – und fordert: Artikel 12a GG soll wieder in Kraft gesetzt und erweitert werden: Alle volljährigen Bürger haben ein Pflichtjahr zu leisten, sei es sozial oder in der Bundeswehr. Außerdem werden Frauen gleichermaßen zum Wehrdienst herangezogen. Das bürgerschaftliche Engagement werde so gestärkt, die Bundeswehr in der Bevölkerung verankert. Sein Kollege Helge Eikelmann und seine Fraktion vertreten eine andere Position: Sie wollen Artikel 12a abschaffen. Aktuelle sicherheitspolitische Herausforderungen seien mit einer "Volksarmee" nicht zu lösen, vielmehr müsse die Bundeswehr technisch besser werden.

Zu Beginn der Veranstaltung liefern sich Marcus Kiesel und Helge Eikelmann am Kopfende der Runde zur Einstimmung einen kurzen Schlagabtausch mit einigen zentralen Argumenten für die jeweilige Position ihrer Fraktion – ein fingiertes Streitgespräch, um die gegensätzlichen Positionen zu verdeutlichen: "Man kann die Menschen nicht zur Solidarität zwingen, so wird die Jugend auch nicht sozialer!" – "Aber ein soziales Jahr bietet auch berufliche Orientierung und wertvolle Erfahrungen; es ist ein prinzipielles Fehldenken, dass den Menschen damit ein Jahr geraubt wird! Wie Bodo Ramelow, Thüringens Ministerpräsident, schon sagte: Der solidarische Dienst an der Gesellschaft sollte jedem am Herzen liegen [...]."

20 Minuten energiegeladene Gruppenarbeit

Nach diesem Einstieg begeben sich die Jugendlichen in zwei getrennten Räumen in Gruppenarbeit und arbeiten Argumente für die Position ihrer jeweiligen Fraktion aus. Dafür haben sie 20 Minuten Zeit. Der „Speaker“ der Gruppe, die für die Einführung des sozialen Dienstjahrs ist, trägt seinen Mitstreitern zunächst sein Plädoyer vor, das er vorbereitet hat: "Solidarität und Verantwortungsbewusstsein sind die Säulen unserer Gesellschaft. Durch soziale Dienste wird ein Gefühl für das Gemeinwesen geschaffen, das in unserer digitalisierten Welt verloren zu gehen droht […]." Als er fertig vorgetragen hat, ergänzt eine Jugendliche: "Wir können ja auch noch sagen, dass wir so dem Fachkräftemangel entgegenwirken können." – "Aber das Argument mit dem Ausgleich des Fachkräftemangels würden uns die anderen um die Ohren hauen – dann sagen die nämlich: Die Menschen sind dafür ja gar nicht ausgebildet – die Einarbeitung würde ja erst mal noch mehr Zeit binden, statt Entlastung zu schaffen."

So feilen sie an ihren Argumenten, durchdenken dabei auch immer genau die Position der anderen Fraktion. Denn genau darum geht es im Programm "Junge Paulskirche": Es versteht sich als ein Forum für politikinteressierte Jugendliche, um sich im Austausch von Argumenten, im Perspektivwechsel und in Konsensfindung zu erproben; das geschieht in insgesamt fünf "Paulskirchendebatten" als Workshops zu verschiedenen Fragestellungen. Dabei nimmt jeder Workshop ein anderes, konkretes Fallbeispiel bzw. eine Fragestellung in den Blick – Grundrechte werden gegeneinander abgewogen, die Jugendlichen debattieren – und geladene Expertinnen und Experten für das jeweilige Debattenthema können befragt werden; am Ende gilt es, einen gemeinsamen Konsens zu finden.

Aber der ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Sicht; denn auch die andere Gruppe, die gegen die Einführung des verpflichtenden sozialen Dienstjahres ist, arbeitet im Nebenraum in den letzten Minuten der Gruppenarbeitsphase mit Hochdruck an ihren Argumenten:

"Deren Position ist ja, dass durch ein soziales Pflichtjahr der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt wird – dass die Menschen zu wenig miteinander sprechen; aber ein Pflichtjahr wirkt dieser Spaltung nicht entgegen – wie soll man Zusammenhalt schaffen, wenn man Menschen zu etwas zwingt, das sie nicht machen möchten?" – "Wir dürfen den anderen aber nicht nur mit dem Argument kommen, dass die persönliche Freiheit wichtiger ist als der Dienst an der Gesellschaft." "Das stimmt… Vielleicht könnten wir das Ganze auch etwas drehen und eher positiv besetzen und sagen: Man sollte statt eines Pflichtjahres eher positive Anreize für den freiwilligen sozialen Dienst setzen – man könnte dem Fachkräftemangel ja entgegenwirken, indem man den ausgebildeten Menschen mehr Gehalt für das zahlt, was sie tun." Helge Eikelmann mahnt: "Denkt dran – ihr eröffnet diesmal, da habt ihr es schwerer – die letzten beiden Male habt ihr eher auf deren Argumente reagiert. Wichtig ist uns: Wir haben auch Interesse an gesellschaftlichem Zusammenhalt – vielleicht gibt es in diese Richtung ja etwas, wo wir zusammenkommen können – vielleicht durch eine 'Woche der Solidarität' statt eines Zwangsjahres?"

Namhafte Experten für die Debatte

Dann ist es so weit: Nach einer kurzen Pause kommen die beiden Gruppen wieder in dem großen Raum an dem langen Tisch zusammen, setzen sich wieder einander gegenüber; am Kopfende dieses Tisches sitzt jetzt, zwischen den politiksprechern, auch der Experte zum Thema der heutigen Veranstaltung: Dr. Jens Kreuter, Jurist und Theologe, der von 2006 bis 2011 Bundesbeauftragter für den Zivildienst war. Die Debatte wird eröffnet. Zuerst kommen die "Speaker" beider Gruppen zu Wort und tragen ihr Plädoyer für die Position ihrer Partei vor; danach folgen weitere Argumente aus der Gesamtgruppe – und schließlich wird die Meinung des Experten abgefragt. Dessen erster Eindruck: "Also, zunächst mal: Das sind sehr spannende Argumente, und ein sehr hohes Niveau. Was mir aber noch fehlt, ist noch ein wenig mehr Gefühl – es geht ja schließlich um euch! Wer von euch weiß schon, was er oder sie nach der Schule machen möchte? Ah – die Mehrheit also noch nicht."

Dieser Impuls bringt noch einmal Bewegung in die Diskussion. Eine Jugendliche aus der Fraktion, die für das soziale Pflichtjahr ist, kontert: "Man könnte sich das verpflichtende freiwillige Jahr ja vielleicht als Ausbildungsjahr anrechnen lassen – dann könnte es zur Berufsorientierung dienen, man könnte Erfahrungen sammeln, und es wäre attraktiver." – "Aber das Recht auf Freiheit im Entscheidungsprozess muss gewährleitet werden", betont jemand aus der anderen Fraktion. – "Aber es gibt ja auch die Schulpflicht. Da sagt ja auch niemand, dass man in seiner Freiheit eingeschränkt wird!", kontert jemand aus der Pro-Fraktion.

"Ich höre raus, dass der Freiheitsaspekt bei eurer Diskussion zentral ist – und den Hinweis mit der akzeptierten Schulpflicht finde ich in diesem Zusammenhang sehr interessant.
Nochmal eine andere Frage: Wer von euch hat schon mal ein Altenheim besucht?" Eine Jugendliche meldet sich. "Und wer hat schwerstbehinderte Menschen in seinem direkten Umfeld?" Nur wenige Hände erheben sich in die Höhe. "Ich denke, jeder sollte mal die Erfahrung machen, dass es Menschen gibt, denen es ganz, ganz anders geht, als einem selbst", so der Experte Dr. Jens Kreuter.

Eine Jugendliche entgegnet: "Da stimme ich Ihnen zu – wir leben alle irgendwie in unserer Bubble. Ich finde, Solidarität sollte schon viel früher forciert werden, das wirkt! Wir hatten mit unserem Hort zum Beispiel mal ein Seniorenheim besucht."

Und so entsteht er auf einmal doch noch, zum Ende der Debatte, aus der Diskussion heraus – der gemeinsame Konsens: Solidarität ist wichtig. Und die Chance, sie zu entwickeln, ist größer, wenn Begegnung und Austausch zwischen allen sozialen Milieus schon so früh wie möglich erfolgen. Das Interesse füreinander in unserer Gesellschaft sollte gestärkt werden – ein singuläres Pflichtjahr allein reicht dafür nicht aus.

Erkenntnisse wie diese aus den Debatten – ihre Überlegungen, Lösungsansätze und Anliegen an die Politik – werden die Jugendlichen der Jungen Paulskirche noch in einem "Memorandum" zusammenfassen. Zuvor diskutieren sie insgesamt ein halbes Jahr lang über Werte, Errungenschaften und Zukunftsvisionen der Republik. Ausgangspunkt dafür ist stets das Grundgesetz. Ist der Föderalismus zeitgemäß und dafür geeignet, um die bevorstehenden und bestehenden Aufgaben zu meistern? Wie viele Parlamentarier braucht die repräsentative Demokratie? Auch mit Fragen wie diesen setzt sich der aktuelle Jahrgang auseinander.

Zum 175. Jahrestag des Zusammentretens der Nationalversammlung wird die Programmgeneration Junge Paulskirche 2022/2023 am 23. Mai 2023 die Schülerveranstaltung "Jugend für Demokratie" mitgestalten – in der Paulskirche, in Kooperation mit der Hertie-Stiftung. Dort werden die Jugendlichen ihr Memorandum vorstellen, vor zahlreichen Schülerinnen und Schülern verschiedener Frankfurter Schulen, die von ihren Lehrkräften begleitet werden.

Doch für heute heißt es für die Jugendlichen nun erst einmal: Feierabend. "Ich möchte euch nach der heutigen Debatte zu einem Perspektivwechsel einladen: Versetzt euch öfter mal in eure Mitmenschen", schließt Marcus Kiesel die heutige Veranstaltung.