Psychische Gesundheit

»Mein Leben mit der Depression«

3. Mai 2023, aufgezeichnet von Jens-Ekkehard Bernerth. Fotos: Andreas Dengel

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Prof. Dr. Andreas Dengel vom IDMI in Frankfurt am Main ist einer der jüngsten Professoren in Deutschland. Der Informatikdidaktiker hat bei seiner Antrittsrede im Juni 2022 seine psychische Erkrankung öffentlich gemacht. Hier beschreibt er, wie er sein Leben meistert und was er sich für Betroffene wünscht.

Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft möchte mit der Förderlinie auf die Bedeutung des Themas Psychische Gesundheit  aufmerksam machen. In unserer redaktionellen Begleitung zum Themenkomplex lassen wir unterschiedliche Stimmen und Ansichten von Expertinnen und Experten sowie Betroffenen zu Wort kommen. Die in den Beiträgen geäußerten Ansichten und Meinungen geben dabei nur die der jeweiligen Person wieder und müssen nicht mit denen des Herausgebers übereinstimmen.

"Bis ich 17 war hatte ich mit Depressionen keinerlei Berührungspunkte. Ich wuchs in einer ländlichen Gegend nahe Regensburg auf und konnte gar nicht so richtig in Worte fassen oder verstehen, was da auf einmal los war bei mir. Ich dachte, das sei einfach nur eine Phase, meine Emo-Phase. Also stand ich mit den "traurigen Emos" meiner Schule herum, mit blau gefärbten Haaren, und habe vor allem Punk-Songs gehört. Mit meinen Eltern habe ich zwar über viele Dinge gesprochen, Gefühle gehörten allerdings nicht wirklich dazu. Also habe ich viel reflektiert, sehr viel über mich selbst nachgedacht: "Warum empfinde ich bestimmte Dinge, wie ich sie empfinde? Warum fühle ich bestimmte Emotionen so, und sind die Emotionen dann auch wirklich so, wie sie sein sollten?" Das ist für mich bis heute das Spannende an psychischen Erkrankungen: Dass man ganz lange davon überzeugt ist, dass man so ist, wie jeder andere auch. Dass es allen anderen genauso gehen muss. Man kommt ja eigentlich nicht auf die Idee, dass der eigene Kopf anders funktioniert als bei anderen. Das war für mich schon eine spannende Erfahrung.

Eine Therapie war keine Option damals. Das stand in der damaligen gesellschaftlichen Sichtweise auf das Thema überhaupt nicht zur Debatte; "Therapie heißt Klapsmühle”, "Therapie heißt völlig weg vom Fenster". Als ich 21 war bin ich zu meiner Hausärztin gegangen. Ich wollte einfach mal abchecken lassen, warum ich diese Leere, die Mattheit, die Traurigkeit empfinde, obwohl mir strenggenommen nichts fehlte und auch die Käfige des Elternhauses und der Schule weg waren. Meine Ärztin hat mir dann Medikamente verschrieben, die gut geholfen haben. Rückblickend betrachtet war es ohne die Tabletten erst schlimmer, dann ist es besser geworden. Das war eine wertvolle Erfahrung, die ich eigentlich auch nicht missen will. Trotzdem würde ich heute, hätte ich die Möglichkeit, zu mir selbst sagen: "Hey, nimm gleich von Anfang an Medikamente." Aber ich glaube, dass meine Persönlichkeitsentwicklung von der jahrelangen Selbstreflektion profitiert hat, selbst wenn ich aufgrund der Energielosigkeit so manche Party am Wochenende verpasst habe.

Doch helfen Medikamente nicht jedem. Ich bin froh darüber, dass sie mir helfen, aber generell glaube ich, dass eine Therapie meistens sinnvoller ist als Pillen. Wenn die Depression eher durch die eigenen Stoffwechselprozesse im Körper ausgelöst ist und eben nicht durch konkrete Erlebnisse, dann können Medikamente aber wirklich gut helfen. Nicht zu unterschätzen sind allerdings die Nebenwirkungen: Die ersten drei Wochen war mir die ganze Zeit schlecht. Ich verspürte Appetitlosigkeit, konnte nachts nicht schlafen. Als sich mein Körper dann auf die Mittel eingestellt hatte, ging es besser. Doch sorgen die Medikamente nicht dafür, dass man dauerhaft glücklich ist. Das ist aber auch gar nicht ihre Aufgabe. Eher wird das Gefühlsspektrum gelevelt, die Stimmungsschwankungen, die in beide Richtungen ausschlagen können, werden zu einer eher ausschlagslosen Linie genormt. Das heißt dann, man ist nicht mehr so traurig, aber eben in schönen Momenten auch nicht mehr so glücklich, wie man es eigentlich sein könnte.

 

Definition Depression: "Wenn traurige Gefühle und negative Gedanken das Denken, Fühlen und Handeln, letztendlich das gesamte Leben bestimmen und erhebliches Leiden verursachen, spricht man von einer Depression. Damit einher gehen oft Störungen von Gehirn- und anderen Körperfunktionen."

 

Für meine berufliche Laufbahn hatte meine Erkrankung natürlich auch Konsequenzen, beispielsweise bei der privaten Krankenversicherung: Aufgrund der Tabletten bezahle ich eine ganze Menge mehr pro Monat, und sollte ich eine Therapie machen oder in die psychosomatische Klinik gehen, muss ich das komplett aus eigener Tasche bezahlen. Fast schon zynisch mutete es an, dass mir die Krankenkassenhotline empfahl, doch vor dem Abschluss auf die Tabletten zu verzichten, damit ich den günstigeren Tarif bekomme. Generell finde ich, dass sich in diesem Aspekt noch viel tun muss in Deutschland. Dass angehende Lehrer und generell spätere Beamte keine Therapie machen aus Angst, nicht verbeamtet zu werden, schadet zum einen dem Menschen selbst, zum anderen der Gesellschaft, beispielsweise wenn Lehrende aufgrund eines Burnouts monate- oder jahrelang ausfallen. Immerhin bin ich nun verbeamtet. Und es reizt mich sehr, eine Therapie zu machen und auch mit verschiedenen Methoden das Unterbewusste zu erforschen. Auch wenn ich das selbst bezahlen muss. Das ist es mir wert.

»Vieles ist sehr, sehr viel härter und anstrengender« Andreas Dengel

Neben den Pillen hilft mir Sport – ich unterrichte vier Mal in der Woche Tricking, eine Mischung aus Akrobatik und Kampfsport. Das ist eigentlich das gemeinste Mittel der Natur: Dass, wenn man keine Energie hat und keine Lust auf irgendwas, Bewegung das Beste ist, was hilft. Selbst wenn man sich dazu aufraffen muss.

Eine strikte Wochenplanung hilft mir, mit der zur Verfügung stehenden Energie zu haushalten. Denn selbst wenn man nach außen hin so wirkt, als ob alles wunderbar funktioniert, sieht es innerlich ganz anders aus: Vieles ist sehr, sehr viel härter und anstrengender, selbst Kleinigkeiten verlangen sehr viel mehr Überwindung. Und dann kann es sein, dass wenn man sich zu Sachen überwunden hat – die entweder überhaupt keinen Spaß machen oder aber die einem so viel Energie rauben – man gegen Ende der Woche einfach nur platt ist und sich tagelang erholen muss.

Um diese Energiearmut zu vermeiden, habe ich ein Ritual für mich entwickelt: Jeden Sonntagabend setze ich mich entspannt hin, höre Musik oder unterhalte mich mit meinen Mitbewohnern, und erstelle nebenbei die Wochenplanung. Dabei gibt es wiederkehrende Vorkommnisse – das Gassigehen mit meiner Hündin Lilo, die eine Matschstunde am Morgen nach dem Aufstehen, in der selbst der Gang zur Kaffeemaschine eine immense Anstrengung darstellt, und der Sport abends. Termine versuche ich in den Vormittag und vor allem auf Anfang der Woche zu legen, wenn ich noch genügend Kraftreserven habe und frisch bin. Slots für E-Mail-Korrespondenz und Texten, Unterrichtsvorbereitung, Meetings oder Korrekturen werden genauso penibel eingetragen wie die Mittagspause in der Mensa. Das heißt natürlich nicht, dass die Planung immer funktioniert. Ich versuche mich aber mit jeder Woche ein bisschen besser selbst einzuschätzen: Wann werde ich Energie haben? Wann nicht? Was wird mir zu welchem Zeitpunkt wahrscheinlich guttun?

Themenschwerpunkt Psychische Gesundheit

Generell finde ich das auch total interessant, wofür die Zeit, die einem gegeben ist, aufgewendet wird. Doch komme ich so gut über die Runden. Generell würde ich mir aber wünschen, dass psychische Erkrankungen von der Gesellschaft ernster genommen und das Thema bereits in frühester Kindheit ins Bewusstsein gerückt werden und offen darüber gesprochen würde. Bei einem gebrochenen Arm hat jeder sofort Mitleid und will auf dem Gips unterschreiben. Bei psychischen Leiden folgt eher gerne mal betretenes Schweigen und Ratlosigkeit, was nun zu sagen ist. Deshalb finde ich es gut, dass die Stiftung Polytechnische Gesellschaft sich dem Thema widmet und so dazu beiträgt, ein Bewusstsein für den Umgang damit zu schaffen. Ich selbst habe an der Universität die Initiative Blue;Science initiiert. In Gesprächsrunden tauschen sich Betroffene aus. Denn schon allein das drüber Reden tut vielen sichtbar gut. So wie es mir auch gutgetan hat.“

Prof. Dr. Andreas Dengel, Jahrgang 1993, ist ein deutscher Wissenschaftler mit den Forschungsschwerpunkten Immersive Learning, Didaktik der Informatik und Medienbildung. Neben den aktuellen Forschungsprojekten an der Goethe Universität Frankfurt am Main ist er in der Beratung von Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und Privatpersonen zur zielführenden Nutzung immersiver Medien wie Virtual Reality und Augmented Reality tätig. Außerdem bietet er Fortbildungen für Lehrpersonen zur gezielten Kombination digitaler Medien mit traditionellen Lehrmethoden an und hat gemeinsam mit dem Hessischen Kultusministerium am Curriculum für das neue Schulfach "Digitale Welt" gearbeitet. Er wurde für seine Arbeit mit diversen Forschungspreisen ausgezeichnet und ist seit 2022 Teil der Forbes 30 Under 30 Liste in Deutschland. Andreas Dengel lebt und forscht in Frankfurt am Main.