PSYCHISCHE GESUNDHEIT

Wenn die Freude am Baby ausbleibt

11. April 2023 von Elisabeth Brachmann

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Melanie Weimer ist Diplom­pädagogin, Geburts­vorbereiterin und Familien­begleiterin. Sie leitet das Projekt "Willkommens­tage in der frühen Elternzeit" in Frankfurt am Main, das Familien rund um die Geburt und im ersten Lebens­jahr ihres Babys unterstützt. Zur Spezialisierung im Feld der Frühen Hilfen hat sie motiviert, dass sie nach der Geburt ihres ersten Kindes selbst an einer post­partalen Depression erkrankte.

Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft möchte mit der Förderlinie auf die Bedeutung des Themas Psychische Gesundheit  aufmerksam machen. In unserer redaktionellen Begleitung zum Themenkomplex lassen wir unterschiedliche Stimmen und Ansichten von Expertinnen und Experten sowie Betroffenen zu Wort kommen. Die in den Beiträgen geäußerten Ansichten und Meinungen geben dabei nur die der jeweiligen Person wieder und müssen nicht mit denen des Herausgebers übereinstimmen.

Melanie Weimers Kinder sind heute erwachsen: 18 Jahre alt wird ihre Tochter, schon 20 Jahre alt ist ihr Sohn. "Auf die Geburt meiner Tochter konnte ich mich besser vorbereiten", erinnert sich die 46-Jährige. "Ich wurde vor, während und vor allem nach der Geburt intensiv von einer Hebamme betreut, ich habe mein Umfeld angesprochen, Hilfe organisiert. Und neben dem Telefon lagen Nummern von Ärzten und Psychotherapeuten." Doch damals reichte schon die Gewissheit, dass sie – noch mitten im Heil­prozess nach der Entbindung, zu Hause mit einem völlig hilflosen Neu­geborenen – nicht alleine war und wusste, wohin sie sich wenden konnte, hätte sie bestimmte Symptome entwickelt und wiedererkannt.

Das war nach der Geburt ihres ersten Kindes anders. "Eigentlich war alles perfekt. Mein Sohn war ein Wunsch­kind zum Wunschzeitpunkt. Ich hatte eine Traum­schwangerschaft, einen tollen Partner, eine unter­stützende Familie – wir haben uns wahnsinnig auf unser Baby gefreut." Auch bei der Geburt läuft, jedenfalls nach Klinik­standards, alles routine­mäßig: "Es war eine Geburt ohne ernsthafte Komplikationen. Aber ich habe mich völlig überrumpelt gefühlt, das war sehr einschneidend," erinnert sich Weimer. Ob sie in der Vorbereitung nicht gelernt habe zu pressen, keift man sie an. Mit einer der letzten Wehen wirft sich der Arzt mit seinem ganzen Gewicht auf Weimers Bauch, um die Geburt ihres Sohnes zu beschleunigen – inzwischen warnt die Welt­gesundheits­organisation vor dieser Methode, dem sogenannten Kristellern. "Das kann Todes­angst auslösen", weiß auch Weimer heute.

Wenn einfach alles anders kommt

"Daran hatte ich zu knabbern", erinnert sie sich. "Schon im Krankenhaus hatte ich den 'Baby-Blues', das habe ich direkt gemerkt. Ich habe viel geweint." Diese hauptsächlich durch hormonelle Verände­rungen kurz nach der Geburt bedingte depressive Verstimmung sei sogar eher die Regel als die Ausnahme, so die Diplompädagogin, die in mehreren Initiativen für neue Eltern in Frankfurt aktiv ist. Sie betreffe über die Hälfte der Frauen, die ein Kind zur Welt gebracht haben, und halte in der Regel einige Tage bis zu zwei Wochen nach der Geburt an.

Bei Weimer vergeht die depressive Stimmung allerdings nicht von selbst. Sie leidet unter massiven Schlaf­störungen – ein typisches Symptom einer post­partalen Depression, das durch den ohnehin vorhandenen Schlafmangel oft unentdeckt bleibt. "Ich wusste natürlich, dass die erste Zeit sehr anstrengend werden würde", gibt die zweifache Mutter zu. "Aber die ersten Wochen waren einfach so anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Es ging mir sehr schlecht, ich habe viel geweint. Die Belastung durch das Neugeborene allein war dafür keine Erklärung."

Der Schlüssel­moment kommt sechs Wochen nach der Geburt ihres Sohnes beim Nach­treffen des Geburts­vorbereitungs­kurses: "Die Kurs­leiterin fragte nur: 'Wie geht es euch?' – und da flossen bei mir schon die Tränen." Sie fühlt sich isoliert, hat das Gefühl, alle anderen Mütter meistern das neue Leben mit dem Baby – nur sie versagt. Die aufmerksame Kurs­leiterin bringt sie mit anderen Müttern zusammen, denen es ähnlich geht wie ihr. Gemeinsam gründen sie die Selbsthilfe­gruppe Blues Sisters, die Weimer heute noch in Frankfurt betreut. Dort erkennt die Pädagogin: Sie ist nicht allein.

 

 

Betroffene sind nicht allein

Ein hoher Prozent­satz neuer Eltern entwickelt psychische Erkrankungen im Zusammen­hang mit Schwanger­schaft und Geburt: Mindestens jede zehnte Frau, die ein Kind bekommt, ist betroffen. So unterschiedlich jede Schwanger­schaft und Geburt verläuft, so verschieden sind auch die Krankheits­bilder, die sich zeigen können: Häufig treten Depressionen auf, Ängste, Panikattacken, Zwangs­gedanken oder psycho­somatische Symptome ohne körperliche Ursachen. Aber auch Suizid­gedanken kommen vor, Post­traumatische Belastungs­störungen mit Flashbacks oder in seltenen Fällen schwerwiegende Psychosen, die für Mutter und Kind lebens­gefährlich werden können. Besonders fatal: Oft verheimlichen Betroffene die Symptome, leiden im Stillen aus Scham und Angst, für schlechte Eltern gehalten zu werden. Im Englischen werden diese sogenannten peri­partalen psychischen Erkrankungen deshalb auch "smiling depression" genannt – das seelische Leid wird nach außen hin einfach weg­gelächelt.

 

Auslöser für peripartale psychische Erkrankungen können beispielsweise schwierig verlaufende Schwanger­schaften und Geburten sein. Es genüge aber auch, dass das Erlebte als schwierig empfunden wird, konstatiert Weimer. Psychische Erkrankungen in der Vorgeschichte, Konflikte in der Paarbeziehung oder fehlende Unterstützung nach der Geburt – nicht nur in sozial prekären Situationen, auch beispielsweise nach einem Umzug – können das Risiko für psychische Erkrankungen vor oder nach der Geburt erhöhen. Auch hormonelle Faktoren können eine Rolle spielen. "Oft trifft es aber auch die Perfektionistinnen", gibt sie zu bedenken. "Das sind Menschen, die ihr Leben lang erreicht haben, was sie wollten, wenn sie sich angestrengt haben. Ein Baby, das einfach schreit, obwohl es gut versorgt ist, stellt da einen absoluten Kontrollverlust dar."

Aufklärung ist die beste Prävention

So ähnlich geht es auch Weimer, bei den "Blues Sisters" realisiert sie: Sie hat eine postpartale Depression entwickelt. "Die Scham ist überwältigend. Man ist ohnehin schon überfordert und fühlt sich wie eine Versagerin. Jetzt hat man auch noch eine Depression? Aber das anzuerkennen, zu benennen und es vor allem ernst zu nehmen, ist unheimlich wichtig. Dann fällt es viel leichter, auch nach Hilfe zu suchen." Auch Weimers Partner und ihre Familie nehmen ihren Leidensdruck ernst. "Die Angehörigen sind am nächsten an der Situation dran, von ihrer Reaktion und Unterstützung hängt viel ab. Sie können bei der Früherkennung helfen und gegebenenfalls einer Kettenreaktion vorbeugen." Denn auch für Väter sind peripartale psychische Erkrankungen ein – noch stigmatisiertes und wenig erforschtes – Thema, vor allem wenn die Partnerin betroffen ist: In heterosexuellen Beziehungen entwickeln mindestens fünf Prozent der Väter eine psychische Erkrankung im Zusammenhang mit der Schwangerschaft und Entbindung ihrer Partnerin, vermutet wird aber sogar eine ähnliche Betroffenheitsrate wie bei Müttern. Bei anderen Familienmodellen ist der Forschungsstand noch schlechter.

Sie habe damals nicht damit gerechnet, dass sie eine postpartale Depression entwickeln könnte, so Weimer. Inzwischen gebe es deutlich mehr Aufklärung über psychische Erkrankungen, die im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt auftreten können, aber es sei noch Luft nach oben: "Ich höre immer noch, dass Informationsmaterial in Kliniken entfernt wird. Man wolle die werdenden Mütter nicht abschrecken, heißt es dann. Dabei wird über andere Komplikationen, die vor, während und nach der Entbindung auftreten können, oft minutiös aufgeklärt. Das ist bevormundend und hilft niemandem. Aufklärung und Information sind die beste Prävention," gibt sie zu bedenken. Wenn es nach ihr ginge, wäre das Thema grundsätzlich Teil der Ausbildung aller Fachkräfte rund um die Geburt: "So würde die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöht, dass jemand das Problem rechtzeitig bemerkt. Im Moment ist das noch zu häufig abhängig vom persönlichen Interesse."

Nicht zu vernachlässigen seien aber auch die starke Überlastung des Gesundheits­systems und in den vergangenen drei Jahren vor allem die Aus­wirkungen der Corona-Pandemie, so Weimer – nicht nur auf neue Eltern, sondern auch auf ihre Kinder. Reprä­sentative Studien belegen, dass die Zahl peri­partaler psychischer Erkrankungen in diesem Zeitraum angestiegen ist. "Lockdowns und Isolation waren wirklich schwerwiegend für neue Eltern", sagt Weimer, die aus ihrer Arbeit im Bereich der Frühen Hilfen eine Vielzahl extremer Beispiele kennt. "Als schon wieder alles Mögliche erlaubt war, durften Väter oder andere Geburtsbegleiter immer noch erst ganz am Ende der Entbindung in den Kreis­saal. Anlaufstellen waren geschlossen. Die Frauen wurden total allein­gelassen. Dass man da in Isolation durchmuss, die Entbindung, die Tage danach im Kranken­haus und die ersten Wochen zu Hause – das ist für mich absolut unmenschlich."

»Die Frauen wurden total alleingelassen. Dass man da in Isolation durchmuss, die Entbindung, die Tage danach im Kranken­haus und die ersten Wochen zu Hause – das ist für mich absolut unmenschlich.«

Melanie Weimer über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit rund um die Geburt

 

Auch für Weimer war der Weg aus der Depression nicht ganz ohne Hürden. "Dass ich nicht gleich eine Therapie gemacht habe, hatte ganz praktische Gründe: Ich habe keinen Therapeuten gefunden, zu dem ich mein Baby mitbringen durfte." Das habe sich in den letzten zwanzig Jahren zum Glück verändert. "Da ist Frankfurt auf einem guten Weg", lobt die Familienbegleiterin. "Schatten und Licht e.V., die Fachstelle für Psychische Krisen in der frühen Elternzeit des Internationalen Familienzentrums IFZ, das Familien­Gesundheits­Zentrum sowie fach­ärztliche Angebote des Bamberger Hofs, der Klinik Hohe Mark und des Universitäts­klinikums Frankfurt – wir haben inzwischen ein gut vernetztes peripartales Hilfenetzwerk von Angeboten."

Psychische Gesundheit ernstnehmen

Heute kann Weimer sagen: Etwa ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes hatte sie ihre postpartale Depression überstanden. Wenn sie darüber nachdenkt, welche Botschaften ihr in dieser schwierigen Phase besonders geholfen haben, sagt sie: "Du bist nicht allein. Du bist eine gute Mutter. Nimm deine Gefühle ernst. Trau dich, dir Hilfe zu suchen und sie anzunehmen. Du darfst Auszeiten von deinem Baby nehmen. Und: Du kommst da wieder raus!" Denn das sei sozusagen der 'Vorteil' an dieser Art psychischer Erkrankungen: Sie seien ein stückweit an diese Ausnahme­situation gekoppelt.

Allerdings habe sie auch ganz allgemein gelernt, dass sie in stressigen Phasen besonders auf sich achten müsse, Pausen machen, um Hilfe bitten und sie annehmen dürfe. "Ich würde mir wünschen, dass das Thema psychische Gesundheit im Allgemeinen in unserer Gesellschaft einen höheren Stellen­wert bekommt", plädiert Weimer. "Natürlich haben wir schon viel dazugelernt und es wird heutzutage mehr darüber gesprochen. Heute würde niemand mehr von 'hysterischen Frauen' sprechen oder den Begriff 'Irren­anstalt' benutzen. Statt­dessen gibt es aber andere Klischees, zum Beispiel, dass es 'schick' ist, eine Therapie zu machen. Das ist auch eine Art Abwertung, das würde man von keiner anderen medizinischen Behandlung behaupten. Mehr als die Hälfte aller Menschen entwickeln im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung, sie führen zu einem ganz realen Verlust gesunder Lebensjahre. Auch das müssen wir ernstnehmen."

Themenschwerpunkt Psychische Gesundheit