Es ist ein eher grauer Vormittag im Frühjahr. Der Weg durch das Bahnhofsviertel zum Gesprächstermin in der Niddastraße ist gezeichnet von geschäftigem Treiben: Menschen strömen aus dem Hauptbahnhofsgebäude auf die Straße hinaus oder in den Bahnhof hinein; viele sind auf der Durchreise oder auf dem Weg zur Arbeit. Doch für andere spielt sich der gesamte Alltag in diesem Viertel, in diesen Straßenzügen ab.
Die Galerie Bernhard Knaus Fine Art befindet sich – auf den ersten Blick etwas unscheinbar, fast möchte man sagen: versteckt – im ersten Stock eines Altbaus in der Niddastraße, die mit ihrer Länge von über einem Kilometer das Bahnhofsviertel mit dem Gallus verbindet. Michelle Heyer öffnet die Tür der Galerie. "Das höre ich öfter, dass man die Galerie hier in der Straße gar nicht vermutet. Dabei gibt es hier in der Niddastraße so Vieles zu entdecken. Genau darum geht es mir ja in meinem Projekt."
Michelle Heyer ist Stadtteil-Historikerin der mittlerweile neunten Programmgeneration. Bereits seit 2007 gibt es das Angebot der Stiftung Polytechnische Gesellschaft zur Erschließung der Geschichte Frankfurts und zur Stärkung der Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stadt. Während des 18-monatigen Stipendiums erforschen bis zu 25 geschichtsinteressierte Frankfurterinnen und Frankfurter pro Staffel ehrenamtlich die Stadt- und Stadtteilgeschichte. Ihre Themen entstammen oftmals ihrem Lebensumfeld und werden von ihnen selbst ausgewählt. "Ich habe mir die Geschichte der Niddastraße als Thema ausgesucht; ich komme ursprünglich aus Mainz, arbeite aber schon seit über zwei Jahren hier in der Galerie. Dadurch, dass mein Arbeitsplatz hier ist, ist mein Interesse an dieser Straße nach und nach immer größer geworden, je mehr Zeit ich hier verbracht habe. Ich wollte immer mehr wissen. Mich hat das bunte, laute Leben in dieser Stadt schon immer sehr angezogen. Und für mich ist die Niddastraße ein Ort, der die Vielseitigkeit Frankfurts widerspiegelt. Dieses Wilde, Bunte, Trubelige, der Austausch. Man sieht an vielen Gebäuden hier in der Straße die Gewachsenheit dieser Stadt; es gibt viele historische Gebäude – allein dieses Gebäude hier, in dem wir sitzen, hat so eine interessante Geschichte."
Eine Straße im Wandel
Die 29-Jährige konzentriert sich in ihrer Recherche auf die Entwicklung der Niddastraße von den 1950ern bis heute. Rund zwei Drittel der Stipendienlaufzeit sind zum Zeitpunkt unseres Gesprächs bereits verstrichen – und haben spannende Erkenntnisse über die Straße und ihre Geschichte im Wandel der Zeit gebracht. "Die Niddastraße war früher stark vom Kürschner-Handwerk – der Pelzverarbeitung und dem Pelzhandel – geprägt. Bis in die 80er hinein hat das das Bild dieser Straße bestimmt. So lange, bis Pelz kontrovers diskutiert wurde. Mich hat dieser Wandel interessiert, der sich in den folgenden Jahrzehnten vollzogen hat – und wie sich das Viertel seitdem entwickelt und verändert hat. Heute sind viele Menschen abgeschreckt von der leider oft negativen Berichterstattung, die es über diese Straße und das Bahnhofsviertel gibt. Ich meine: Drogen sind hier tatsächlich ein Problem, das auch sichtbar wird, wenn man durch die Straße läuft. Das bestimmt das Stadtbild mit. Aber es gibt hier auch so viel Positives zu entdecken: Orte der Kunst, der Kultur, des kreativen Lebens, die gastronomische Szene. Und es gibt in der Straße auch sehr viele engagierte Menschen, die versuchen, Momente für ein Zusammenkommen, Möglichkeiten für einen Austausch zu schaffen – auch oder gerade, weil der Alltag vieler Menschen hier so unterschiedlich ist. Ich beobachte hier einfach oft, wie Menschen einander helfen. Das finde ich schön."
Postkartenedition zu Orten und Geschichten
Am Ende der Stipendienlaufzeit präsentieren die Stadtteil-Historikerinnen und Stadtteil-Historiker die Ergebnisse ihrer Arbeit der Öffentlichkeit. Das Format hierfür wählen sie ebenfalls selbst. Die studierte Kunsthistorikerin hat lange überlegt, so sagt sie, auf welche Weise sie die Ergebnisse ihrer Forschung, die Vielseitigkeit der Straße und ihrer Geschichte am besten vermitteln könnte. "Ich habe mich am Ende dazu entschlossen, eine Postkartenedition zu Orten und Geschichten von Personen in dieser Straße herauszugeben. Ich finde das Format der Postkarte sehr interessant: Postkarten dokumentieren einen ganz persönlichen Moment der Geschichte; sie verbinden Bild und Text. Ich dachte mir: Postkarten verschickt man üblicherweise ja eigentlich nur von Urlaubsorten oder Orten, die man als ästhetisch besonders ansprechend und schön empfindet. Und dann kam mir die Idee, die Niddastraße so zu zeigen. Weil man so sehr schön ein Bewusstsein für kleinere, schöne Orte in dieser Straße hier schaffen kann, die man sonst vielleicht nicht so auf dem Schirm hat, obwohl man sich tagtäglich entlang dieser Orte bewegt."
Neben dem Pelzhandel und seiner Geschichte in der Straße wird auch die Galerie eines der Themen bzw. Motive der Postkarten sein, so viel sei schon verraten. Ergänzend zur Postkartenedition wird eine Webseite entstehen, die vertiefende Informationen zu den Postkartenmotiven bietet. Bis zum Mai will Michelle Heyer die Gestaltung der Karten abgeschlossen haben. "Dann startet in Frankfurt auch die RAY-Fotografie-Triennale; zu diesem Zeitpunkt würde ich die Karten gerne hier in der Galerie präsentieren und verkaufen; einen Teil des Erlöses werde ich einem Projekt spenden, das sich für die Drogenhilfe in dieser Straße einsetzt. Ich möchte den Launch der Postkartenaktion gerne auch mit einzelnen Aktionen, also einer Art 'Rahmenprogramm', verbinden; ich fände es zum Beispiel schön, eine Führung durch die Straße anzubieten; dann könnte ich auch mit Menschen ins Gespräch kommen, die vielleicht noch mehr spannende Geschichten über diese Straße erzählen können. Und vielleicht könnte ich diese dann in einem nächsten Schritt auch in die Webseite einfließen lassen."
Wer mehr über die Geschichte der Niddastraße erfahren möchte, kann nach Ende der Programmlaufzeit der aktuellen Stadtteil-Historiker-Staffel die Programm-Webseite besuchen – denn dort werden die Forschungsprojekte aller Stadtteil-Historikerinnen und -Historiker dokumentiert.