Porträt

Was macht eigentlich... Jacqueline Kuhn?

22. November 2022, von Brigitte Degelmann

Jacqueline Kuhl mit Malerutensilien und einem Lehrbuch im Garten. Foto: Leonhard Hamerski.

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Wenn sie den Grazer Uhrturm beschreiben soll, muss die 24-jährige Jacqueline Kuhn nicht lange überlegen. Sein steiles Dach hat sie genauso vor Augen wie den hölzernen Wehrgang, der das gedrungene Bauwerk umgibt, und die vergoldeten Zeiger auf den Zifferblättern. Dass sie das Wahrzeichen der österreichischen Stadt so gut kennt, hängt mit einem Wettbewerb zusammen, bei dem sich die junge Frau aus Bad Homburg im September 2021 mit den besten Handwerkern Europasmaß. Denn sie studiert nicht nur Bauingenieurwesen an der Frankfurt University of Applied Sciences, sondern absolvierte parallel dazu eine Ausbildung zur Malerin und Lackiererin, die sie 2019 als Innungsbeste abschloss.

Weil sie danach auch noch den Landes- und sogar den Bundesleistungswettbewerb gewann und sich damit »Beste Malerin Deutschlands« nennen durfte, waren der Sprung ins Malernationalteam und die Teilnahme an der »Europameisterschaft der Berufe« in Graz vorprogrammiert. Eine der Herausforderungen dort: das Logo des Grazer Uhrturms mit Farbe und Pinsel auf eine Stellwand zu übertragen – und zwar freihändig. Was nicht nur ein scharfes Auge und eine ruhige Hand erforderte, sondern auch genaues Arbeiten.

Bei sämtlichen Arbeiten seien als Maßtoleranz nur Abweichungen von einem Millimeter erlaubt gewesen, erklärt sie. Auch die anderen Aufgaben hatten es in sich: tapezieren, eine Tür mit drei Farben lackieren, Farben möglichst exakt nachmischen. Alles unter Zeitdruck. Unter zwölf Teilnehmern wurde sie am Ende Siebte – ein Resultat, mit dem sie zufrieden ist. Schließlich seien dort »die Besten der Besten« am Start gewesen. »Das war schon eine sehr coole Erfahrung«, sagt sie.

Dass sie einst zur europäischen Spitze im Handwerk gehören würde, hätte sich Jacqueline Kuhn vermutlich nicht träumen lassen, als sie vor sechs Jahren Abitur machte. Zwar war ihr schon seit der neunten Klasse klar, dass sie in Richtung Ingenieurwesen streben wollte: »Damals habe ich ein Praktikum in einem Ingenieurbüro gemacht, das ich superspannend fand.« Doch nur zu studieren, darauf hatte sie keine Lust. Lieber hielt sie Ausschau nach dualen Studiengängen. Irgendwann stieß sie auf die Kombination Bauingenieur/Maler-Lackierer. »Klingt spannend«, dachte sie. Früher schon hatte sie ihrem Vater gern bei Renovierungsarbeiten geholfen – »handwerklich war ich schon immer interessiert«. Kurz entschlossen bewarb sie sich bei den Malerwerkstätten Mensinger in Frankfurt-Preungesheim, erhielt eine Zusage und begann dort im November 2016 ihre Ausbildung.

Schnell merkte sie, dass ihr die Arbeit liegt: »Man macht jeden Tag was anderes. Und man sieht am Abend auch, was man gemacht hat.« Nicht zu vergessen das Förderprogramm »Montagsmaler« der Maler- und Lackiererinnung Rhein-Main, an dem sie seit ihrem ersten Lehrjahr teilnimmt. Traditionelle Handwerkstechniken werden dort vermittelt: zum Beispiel Illusionsmalerei, das Gießen von Stuckleisten, die Arbeit mit Pigmenten. Aber auch das Bauingenieurstudium macht ihr Spaß. Vor allem der ständige Wechsel zwischen Theorie und Praxis gefällt ihr: zwei oder drei Tage harte körperliche Arbeit mit Walze und Pinsel, dann wieder zwei Tage Vorlesungen über Deutsche Industrienormen, Baustatik und digitales Planen.

Dass Frauen am Bau immer noch eine kleine Minderheit sind, stört sie nicht. Akzeptiert worden sei sie ohnehin von Anfang an, sagt sie. Auch als sich ihr vor rund zwei Jahren die Gelegenheit bot, am Programm Samstagsschule für begabte Handwerker der Stiftung Polytechnische Gesellschaft teilzunehmen, musste sie nicht lange überlegen. Die Seminare und Workshops hat sie in bester Erinnerung: »Man lernt, sich auszudrücken, sich zu präsentieren, frei zu sprechen. Für meine persönliche Entwicklung war das sehr gut.« Seit 2021 ist sie für die Stiftung regelmäßig als Ausbildungsbotschafterin in Schulen unterwegs und erklärt Jugendlichen, was das Handwerk zu bieten hat. Darüber hinaus leitet sie inzwischen auch Prüfungsvorbereitungskurse in der Maler- und Lackiererinnung.

»Beste Malerin Deutschlands«
Als Gewinnerin des Landes- und des Bundesleistungswettbewerbs darf Jacqueline Kuhn sich offiziell so nennen.

Derzeit absolviert sie ein berufspraktisches Semester bei einem Farbenhersteller, ihr Studium will sie innerhalb der nächsten zwei Jahre abschließen. Und dann? Da muss sie kurz überlegen. Vielleicht Projektleitung, sagt sie: »Mir macht es auf der Baustelle superviel Spaß.« Und vielleicht bietet sich ihr dabei irgendwann auch einmal hierzulande die Gelegenheit, eine Wand mit einem großen Logo zu verzieren. Freihändig, versteht sich.

Über die Autorin
Brigitte Degelmann ist freie Journalistin, lebt in Frankfurt am Main und arbeitet für mehrere Tages- bzw. Wochenzeitungen, unter anderem für die Frankfurter Neue Presse.