Portrait

Ein Café als Ort der Begegnung

19. September 2024, von Alexander Jürgs (jb)

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Semeret Micael liebt es, Menschen zusammenzubringen und einen Austausch zwischen ihnen zu initiieren. Das gelingt ihr auf Spielplätzen, bei Kulturfestivals, in Museen – und neuerdings auch in ihrem eigenen Café im Frankfurter Stadtteil Bockenheim.

An den Wänden des Cafés hängen farbenfrohe Malereien; Szenen voller Menschen, Bilder von ausdrucksstarken Gesichtern. Und Fotografien, die meisten in Schwarzweiß. Man sieht tanzende Menschen, eine um einen Tisch verteilte Gruppe, die sich einen Injera-Fladen teilt. Sie lachen, sind fröhlich. Die Fotografien sind Familienbilder, aufgenommen in Eritrea. Semeret Micael war ein Kind, als sie das ostafrikanische Land verlassen musste. Mit ihrer Mutter ist sie vor dem Bürgerkrieg dort geflohen. In Frankfurt hat Micael, heute 46 Jahre alt, eine neue Heimat gefunden. Und, vor etwa einem Jahr, ihren Traum von einem eigenen Café verwirklicht. Im Stadtteil Bockenheim hat sie das Moya Café eröffnet.

Die letzten Gäste sind gerade gegangen, Semeret Micael wechselt die Musik. Sie legt ein Stück von Emahoy Tsegué-Maryam Guèbrou auf, man hört, wie die in ihrer Heimat Äthiopien oft „Piano Queen“ genannte Künstlerin das Klavier spielt. Die Musikerin stammte aus einer reichen Familie, verbrachte ihre Jugend in einem Schweizer Internat, studierte in Kairo Violine, bevor sie sich entschloss, in ein Kloster zu gehen. Nach zehn Jahren kehrte sie nach Addis Abeba zurück, begann eigene Stücke zu komponieren. Was sie mit ihrer Musik verdiente, spendete sie großteils an ein Waisenhaus. Doch dann musste auch sie fliehen und sie zog in ein Kloster in Jerusalem. Mit der Musik von Emahoy Tsegué-Maryam Guèbrou beginne sie beinahe jeden Tag in ihrem Café, erzählt Micael. Bevor der Trubel beginnt, hört sie morgens die entspannt-vibrierenden Klänge der äthiopischen Nonne.

Ihr Café soll ein Raum sein, an dem die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen, sich austauschen und einander besser kennen lernen, sagt Micael. Grenzen und Vorurteile zu überwinden, das ist ihr ein Anliegen. Und das war es auch vor vielen Jahren schon. Sie erzählt, wie sie einmal von einer Freundin hörte, dass es auf einem Spielplatz im Frankfurter Stadtteil Goldstein zu Konflikten gekommen ist. „Biodeutsche“ Eltern und Eltern mit Migrationsgeschichte waren aneinandergeraten und hatten sich darauf geeinigt, den Spielplatz nur noch getrennt zu nutzen. So gab es nun Zeiten, an denen die eine Gruppe den Platz allein für sich nutzte – und Zeiten für die andere Gruppe. „Das kann doch nicht sein“, dachte Micael und begann zu vermitteln. Sie organisierte ein Treffen, lud beide Gruppen ein. Dort waren es die Kinder, die die Situation schnell entspannten. Einfach, in dem sie anfingen, miteinander zu spielen. Die absurde Idee eines getrennten Spielplatzes war aus der Welt.

Alumna seit 2010

Mit der Stiftung Polytechnische Gesellschaft ist Micael schon lange verbunden. Ihre Tochter Rachel war Diesterweg-Stipendiatin der ersten Generation. Mit den Bildungsstipendien, die 2008 erstmals vergeben wurden, werden Schüler und Schülerinnen aus Frankfurt beim Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule gefördert. Und auch die Eltern der Viertklässler nehmen an dem Programm teil. Micael erinnert sich an spannende Angebote, an einen Besuch des Museums Giersch am Frankfurter Museumsufer etwa.

Doch auch danach blieb sie mit der Stiftung „immer in Kontakt“. Sie war bei Programmen mit Geflüchteten mehrmals als Übersetzerin im Einsatz, hat den Neuangekommenen zum Beispiel davon berichtet, „wie die Schule in Deutschland funktioniert“. Und sie hat auch ein Projekt als Stadtteil-Historikerin umgesetzt. Bei dem Programm erforschen seit 2007 zahlreiche Bürger und Bürgerinnen die Frankfurter Stadt- und Stadtteilgeschichte. Micael hatte sich mit einer Recherche zu der Straße Sandweg, an der Grenze der Stadtteile Nord- und Ostend gelegen, beworben. Sie forschte zu den Geschäften, die es dort einmal gab, zu den Menschen, die sie betrieben haben, die mit ihnen das Leben im Viertel prägten. Zu ihrer Recherche wollte Micael auch eine Ausstellung organisieren – doch die Pandemie und die Corona-Regeln machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Den Austausch in dem Netzwerk aus Menschen, das rund um die Stiftung entstanden ist, beschreibt sie als inspirierend. "Man bekommt unheimlich viel zurück."

»Man bekommt unheimlich viel zurück.« Semeret Micael Stadtteil-Historiker-Alumna
Semeret Micael. Foto: privat
Semeret Micael. Foto: privat

Sich zu engagieren, sich für andere einzusetzen, „das kommt aus meinem Inneren“, sagt Micael. Sie war schon immer aktiv, hat sich an unterschiedlichen Initiativen beteiligt, erzählt sie. Beim Kulturfestival „Stories of Color – Schwarz bewegt“ hat sie einer ihrer Kaffeezeremonien veranstaltet, im Historischen Museum Frankfurt hat sie gemeinsam mit anderen für das sogenannte Stadtlabor die Sound-Installation „Warum schweigen wir?“ entwickelt. Sie hat ein Erzählcafé initiiert und eine Aktion zur Leseförderung auf die Beine gestellt, ist dafür mit einem Wohnwagen voller Bücher zu Festivals gefahren, um bei jungen Menschen die Begeisterung für Literatur zu wecken.

Eine Person, die gerne im Mittelpunkt steht und zu anderen spricht, ist sie trotzdem nicht, sagt Micael. Als ihr Ziel beschreibt sie es, für Menschen, die sonst nicht im Zentrum stehen, mehr Sichtbarkeit zu schaffen. Darum ist sie auch immer offen, wenn jemand kommt und in ihrem Café Moya eine Ausstellung zeigen, eine Lesung organisieren oder einen Workshop anbieten will. „Ich rede nicht viel, ich zeige es einfach“, sagt Micael. „Mein Café soll ein Safe Space sein, an dem jeder so sein kann, wie er will.“

Die aktuellen Entwicklungen, die Erfolge der AfD, die wieder erstarkten Ressentiments gegen Menschen mit Migrationsgeschichte machen ihr große Sorgen, sagt Micael. Sie erinnert sich an ein Video aus dem Jahr 2016, aufgenommen in dem sächsischen Ort Clausnitz, das sie besonders erschreckt hat. Ein wütender Mob hat damals einen Bus mit Geflüchteten vor einer neuen Asylbewerberunterkunft gestoppt, die Menschen saßen eineinhalb Stunden verängstigt in dem Bus fest. „Das hat mir unheimlich wehgetan“, sagt Micael. Und es hat sie auch an ihre eigene Kindheit erinnert, an die Achtzigerjahre. Als sie mit ihrer Mutter damals aus einem Flüchtlingsheim nach Frankfurt ziehen konnte, als sie dann eine Wohnung direkt am Mainufer fanden, da hat die Mutter zu Micael oft gesagt, sie solle nicht so lange am Fenster stehenbleiben. Erst später begriff sie, was dahintersteckte. Ihre Mutter hatte Angst, dass jemand bemerkt, dass Schwarze in das Haus gezogen sind.  

Gegen solche Zustände will Micael weiter kämpfen – für eine Welt, in der niemand mehr Angst haben muss, weil er anders ist als die Mehrheit.

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