Am 11. März 2022 standen wir auf dem Sportplatz der Schule. Schulter an Schulter, formiert zu einem Herz. Blau und Gelb. Eine Geste der Hoffnung. Ein Symbol für den Frieden. Für zehn Minuten hielten wir inne, hielten uns an den Händen, ließen die Drohne über uns kreisen, während die Kamera unser Mitgefühl einfing. Die Farben leuchteten im Morgenlicht, ein stilles Zeichen gegen das Unrecht der Welt. Dann klingelte es.
Das Herz zerfiel, die Hände ließen einander los. Das Bild wurde hochgeladen, geteilt, geliked. Ein starkes Zeichen. Nie wieder. Wir vergessen nicht. Und während unser Herz makellos auf der Schulhomepage thronte, verbrannten irgendwo Körper in ausgebrannten Häusern, krochen Verstümmelte durch Schutt, zählte jemand seine letzten Sekunden, ehe der Boden aufriss. Kein Filter, kein Morgenlicht, keine perfekte Formation. Nur Blut, nur Staub, nur die Gleichgültigkeit eines Krieges, der sich nicht für unsere Inszenierung interessierte.
Doch was zählte das gegen unser gutes Gefühl? Gegen das warme Prickeln moralischer Überlegenheit? Gegen das Wissen, etwas getan zu haben? So einfach ist es, auf der richtigen Seite zu stehen. Es kostet nichts. Kein Risiko, keine Mühe, nicht einmal den Hauch eines eigenen Gedankens. Man muss nur nicken, zustimmen, mitmachen.
Die Tür steht offen. Und weil sie schon immer offen stand, geht niemand davon aus, dass sie sich je schließen könnte. Also bleibt man sitzen, redet, beklatscht das Altbekannte. Bis es zu spät ist. Wir haben uns an den Begriff "Gleichgültigkeit" gewöhnt – er hat sich zu einer Konstante entwickelt, einem Begriff, der in Gesprächen beiläufig erwähnt wird. Sie sei das Übel der Gegenwart, eine Epidemie des Mitgefühls. Politiker behaupten, sie sei eines der ausschlaggebendsten Defizite der Gesellschaft. Ihr Ursprung wird untersucht, ihre Strukturen seziert, ihre Folgen prognostiziert. Und doch bleibt ein Verdacht: Vielleicht ist das Problem nicht die Gleichgültigkeit, sondern die Prämisse, dass sie überhaupt existiert.
Gleichgültigkeit existiert nicht.
Müdigkeit existiert.
Sie zeigt sich an der Bushaltestelle, wo ein Mann ohne Zuhause auf den 29er wartet – als könnte die Fahrt ihm ein Ziel geben. Sie zeigt sich im Frankfurter Bahnhofsviertel, wo ein Mann um Kleingeld bittet, nicht aus Hoffnung, sondern aus Gewohnheit. Sie zeigt sich in den engen Zimmern der Flüchtlingsheime, wo die Tage vergehen, ohne dass jemand sagen kann, wann das Warten aufhört. Wo ein Vater seinen Sohn auf einer Matratze in den Schlaf wiegt – weil es hier wenigstens ein bisschen warm ist. Und sie zeigt sich in Thüringen, wo Eltern ihre Kinder nicht mehr allein zur Schule gehen lassen, weil die Angst längst nicht mehr abstrakt ist, sondern sich in der Tagesschau wiederfindet. Diese Müdigkeit ist universell. Sie ist kein politisches Lager, keine Ideologie, sondern etwas, das jeden berührt – in Blicken, die sich kreuzen und doch aneinander vorbeigehen, in der Stille zwischen Worten, die gegeneinander statt miteinander gesprochen werden.
Gleichgültigkeit ist keine Entscheidung gegen Mitgefühl. Sie ist eine Reaktion auf eine Welt, die zu laut, zu schnell, zu durchlässig für das Leid anderer, bis das Einzige, was bleibt, ein dumpfes, kaum greifbares Schuldgefühl ist, das niemandem mehr gehört. Ein instinktiver Rückzug aus einer Welt, die uns entfremdet. Eine Reaktion auf die Vereinzelung, die nicht bloß schleichend, sondern systematisch vorangetrieben wurde – eine radikale Individualisierung, die dem Wesen des Menschen widerspricht. Eine natürliche Reaktion auf eine unnatürliche Ordnung. Und so ziehen wir uns zurück, lassen unsere Augen in Bildschirmen versinken, als könnten wir dort etwas finden, das längst verloren ist. Trotzdem halten wir an der Vorstellung fest, es gäbe eine bewusste, kalte Teilnahmslosigkeit, die mit klugen Analysen oder einem Gewissensappell zu durchbrechen wäre.
Daher ruft man Essay-Wettbewerbe ins Leben.
"Schreiben Sie über Gleichgültigkeit – nicht als Anklage, sondern als Spiegel. Lassen Sie die Gleichgültigen sich selbst erkennen und ihr Verhalten hinterfragen."
Die eingereichten Essays sind elegant formuliert, bis ins kleinste Detail durchdacht. Mit ernsten Mienen studiert die Jury Wortwahl und Struktur, Argumentation und Stilistik. Schließlich wird entschieden, welcher Text der Beste ist. In einem hellen Raum hält der Preisträger seine Rede. Er thematisiert das große Wegsehen, das Schwinden der Menschlichkeit, eine Gesellschaft die sich an ihre eigene Abstumpfung gewöhnt. Die Zuhörer lauschen, nicken, seufzen. Am Ende wird natürlich applaudiert. Und nun?
Nun werden die Stühle aufeinandergestapelt, die Bühne abgebaut, das Rednerpult zurückgeschoben. Das Mikrofon verstummt. Ein achtlos zurückgelassenes Programmheft landet im Müll. Der einzige Beweis, dass hier jemals Menschen saßen, ist die beklemmende Luft – eine dichte Mischung aus Schweiß, Parfüm und der Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Ein Artikel erscheint. Dann liegt er in einer Ecke. Einen Monat später im Altpapiercontainer. Aber das macht nichts.Der nächste Wettbewerb kommt bestimmt . Die nächsten Essays werden geschrieben, werden poliert und geschliffen, sodass ihre Wucht genau dosiert bleibt – betroffen machend, aber nicht beunruhigend, scharf aber nicht stechend, unbequem, aber nicht so unbequem, dass jemand wirklich aufstehen würde. Und während man über Gleichgültigkeit spricht, sitzen draußen, vor den hell erleuchteten Sälen, Menschen an Bushaltestellen, während die Kälte in ihre Knochen kriecht. Ein Mann auf der Straße wird nie wieder um Kleingeld bitten. Die Flüchtlingsheime werden voller – keine Matratzen mehr für die Väter und ihre Söhne. Bis Meldungen kommen und vergehen. Bis das eigene Kind nicht mehr vermisst, sondern nur noch vermerkt wird – eine Möglichkeit unter vielen.
Und irgendwo wird jemand sterben.
Ohne Applaus. Ohne Analyse. Ohne Fußnote in einem klugen Essay.
Denn die Worte sind zu schön geworden, um noch weh zu tun. Die Debatten zu ausgefeilt, um noch zu erschüttern. Die Empörung zu ritualisiert, um noch eine Handlung nach sich zu ziehen.Wir haben so oft gesagt, dass etwas getan werden muss, dass es sich inzwischen fast so anfühlt, als hätten wir es bereits getan. Vielleicht ist das die eigentliche Gleichgültigkeit. Nicht die kalte, bewusste – sondern die, die sich hinter dem Gefühl versteckt, auf der richtigen Seite zu stehen. Die, die sich selbst nicht als Teil des Problems sieht.
Die, die weiter applaudiert, während draußen eine Tür zufällt.