Interview

Gemeinsam für Frankfurt

9. Januar 2023 geführt von Jens Ekkehard-Bernerth und Axel Braun

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Wir sprachen mit Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich, dem neuen Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Polytechnische Gesellschaft.

Herr Professor Dievernich, der Titel der aktuellen POLYTECHNIK lautet "Wir". "Wir" ist ein wiederkehrender Begriff in Ihren ersten Wochen als Vorstandsvorsitzender der Stiftung. Warum spielt der Begriff so eine große Rolle für Sie?

Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich Weil dem "Wir" die Zukunft gehört. Ich bin überzeugt davon, dass wir nur gemeinsam eine Gesellschaft gestalten können, die ein gutes, nachhaltiges und sinnhaftes Leben ermöglicht.

Steht der Begriff auch programmatisch für die Ideen, mit denen Sie angetreten sind?

Durchaus. In den zahlreichen Einzelgesprächen mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung, die ich gleich nach meinem Amtsantritt geführt habe, zog sich ein roter Faden durch alle Gespräche: Ein Fixpunkt der Stiftungsarbeit ist Teilhabe. Damit zahlt alles, was wir tun, in ein größeres Ganzes ein, nämlich in eine Gesellschaft, in der wir gut miteinander leben können. Das möchte ich in Zukunft noch stärker unterstreichen.

Besonders in einer Bürgerstadt wie Frankfurt am Main?

Richtig. Unsere Stiftung baut am Frankfurter "Wir", an der Gesellschaft Frankfurts, in der in der Vergangenheit die Bürgerinnen und Bürger ihr Schicksal immer wieder selbst in
die Hand genommen haben. Ein Beispiel: Wie ist der Eiserne Steg entstanden? Von den Bürgern gebaut. Senckenberg, das Städel Museum, die Polytechnische Gesellschaft –
alles Gründungen engagierter Bürger zum Wohle der ganzen Stadt. Und heute? Denken Sie an Eintracht Frankfurt, einen Fußballverein, der nicht erst seit dem Europapokalsieg eine enorm verbindende Kraft auf die Menschen der Stadt ausübt. Der Rapper Hassan Annouri singt das Lied »Wir sind alles Frankfurter« und stiftet damit Identität. Junge Menschen – ganz gleich mit welchem Hintergrund – sagen, ohne zu zögern: "Ich bin Frankfurter". In Frankfurt existiert bereits ein "Wir". Und ich glaube, dass wir dieses "Wir" stärken müssen.

»Dem ›Wir‹ gehört die Zukunft.«

Ein ambitioniertes Vorhaben in einer dynamischen, internationalen und wachsenden Großstadt.

Absolut. Unsere Herausforderung ist es, eine Struktur zu schaffen, die Menschen dazu bringt zu sagen: "Das ist meine Heimat.", "Ich bin hier gut aufgenommen worden.", "Hier gelingt etwas, was woanders nicht geht." Frankfurt bietet auf kleinstem Raum eine immense Vielfalt.

Wie kann das gelingen?

Beispielsweise beim Thema Integration: Ich glaube, dass es das Einfachste wäre, den Willkommensprozess beim Ankommen in Frankfurt zu institutionalisieren. Etwa indem den Menschen gleich drei, vier Kontakte zu Ehrenamtsorganisationen, zu anderen Frankfurterinnen und Frankfurtern vermittelt werden, die interessante, wertschätzende und hilfreiche Angebote in petto haben.

Welche Rolle spielt ehrenamtliches Engagement?

Eine ganz große Rolle. Ich würde sagen, die Gesellschaft der Zukunft funktioniert nicht mehr ohne Zivilgesellschaft, und sie funktioniert nicht mehr ohne Ehrenamt. Das, was wir heute benötigen, kann der Staat allein nicht liefern. Das Ehrenamt ist extrem wichtig. Für uns. Für unsere Gesellschaft. Und natürlich für unsere Stiftung.

Junge Leute für das Ehrenamt zu begeistern, könnte auch eine große Herausforderung sein.

Gegenthese: Ich glaube, dass die jungen Leute prädestiniert sind für aktives und freiwilliges Engagement. Wie ist die momentane Bewegung der Jugend zu erklären? Dass Schülerinnen und Schüler auf die Straße gehen für das Klima? Wenn sie sich gegen Diskriminierung einsetzen? Sich sensibel zeigen, was die Sprache angeht? Die Jugend verschafft sich damit Raum zum Atmen, den sie möglicherweise in dem Rahmen, der ihr gegeben wird, nicht mehr hat. Kurzum: Ich erlebe eine sehr aktive und engagierte Generation, die vielleicht nur einen neuen Zugang ins ehrenamtliche Engagement braucht. Und die Sprache spielt dabei eine Rolle: Weg also vom "Ehrenamt" und hin zum "Bauen am Wir".

Kommen wir zu Ihrem eigenen Werdegang. Sie sind von Frankfurt-Bockenheim nach München gegangen, haben in Berlin und in der Schweiz gelebt. Sie haben Soziologie studiert, sind systemischer Coach mit familientherapeutischer Ausbildung, waren Hochschulpräsident sowie Manager in großen Unternehmen. Jetzt sind Sie Vorstandsvorsitzender einer Stiftung. Gab es ein Leitmotiv, das Sie diesen Weg gehen ließ?

Ich glaube, das übergeordnete Motiv ist tatsächlich, die Welt retten zu wollen (lacht). Das war nicht immer der Fixstern, aber irgendwann ist es dazu geworden. Es treibt mich an, die Welt um mich herum zu verbessern. Und mich treiben die unglaublichen Potenziale an. Dabei frage ich mich manchmal: Warum sind wir alle so unvernünftig? Es liegt doch alles auf der Hand. Wir müssten einfach nur ein bisschen vernünftiger sein, ein bisschen mehr zurückgenommen, nicht so großspurig agieren. Und dann würde das mit der Welt auch besser. Ich komme aus einem Haus, in dem das Thema Sicherheitsdenken aus meiner Perspektive omnipräsent war. Ich bin in einem Spannungsverhältnis aufgewachsen zwischen einer Mutter aus einem Künstlerhaushalt und einem Vater, der sehr arbeitsam war. Einer französischen Mutter und einem deutschen Vater, zwischen einer Generation jüdischer Herkunft und einer deutschen Tätergeneration.

Wie hat Sie das beeinflusst?

Am Ende meiner Schulzeit wollte ich eigentlich Architektur studieren, bin dann aber doch den vermeintlich sichereren Weg gegangen und habe eine Ausbildung zum Industriekaufmann kombiniert mit einem Studium der Betriebswirtschaftslehre in München. Dann gab es aber einen Bruch. In einem internationalen Automobilunternehmen habe ich gemerkt, wie sich meine Kolleginnen und Kollegen, die mit mir angefangen haben, veränderten. Die Vielfalt, die Neugierde ging verloren. Zudem wollte ich nochmal Geistes- und Sozialwissenschaften studieren. Die Soziologie wurde dann meine große Liebe, und plötzlich standen die Gesellschaft und ihre Potenziale im Vordergrund. Darum ist es sicher kein Zufall, dass ich jetzt in einer Stiftung bin, die auch "Potenzialentfaltungsgemeinschaft" genannt wird.

»Es gibt hier sehr viele Menschen, die in Frankfurt aktiv sind und wunderbare Ideen haben. Diese noch besser miteinander zu vernetzen, ist ein Anliegen.«

Sie in Ihrer Rolle als Vorstandsvorsitzender: Was, denken Sie, sind jetzt die großen Herausforderungen für Frankfurt, die Sie auch angehen wollen?

Das "Bauen am Wir". Das Thema Ehrenamt, ehrenamtliches, zivilgesellschaftliches Engagement stärken mit unterschiedlichen Ideen. Mein anderes großes Thema ist die (psychische) Gesundheit in dieser Stadt, gerade auch bei den jungen Menschen. Ich glaube, dass diese Frage nach Wohlbefinden, nach Gesundheit ganz wichtig ist mit Blick auf die Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben: Hitze, Energiekrise, Krieg und daraus resultierende Zukunftsängste. Ich möchte, dass das Thema der Persönlichkeitsentwicklung eine noch stärkere Rolle spielt – und zwar in all unseren Bildungsprogrammen. Es geht um Selbstwirksamkeit und das Entwickeln von Resilienz. Das Dritte ist, die Stadt mitzugestalten, eine starke und hörbare Stimme der Stadtgesellschaft zu sein und die zentralen Akteure und Menschen miteinander zu verbinden. Es gibt hier sehr viele Menschen, die in Frankfurt aktiv sind und wunderbare Ideen haben. Diese noch besser miteinander zu vernetzen, ist ein Anliegen. Und in dieser Konstellation zuletzt das Thema Klimawandel. Wie können wir die Stadt in diese Richtung mitgestalten, sie nachhaltiger aufstellen? Wir wollen mit der Stiftung ein Vorbild sein und Möglichkeiten zeigen, wie gelungenes, ressourcenschonendes und menschenfreundliches Leben ganz praktisch funktionieren kann. Das setzt schon in den Schulen an: Wir müssen lernen, transdisziplinär und in Systemzusammenhängen zu denken.

Was bedeutet Frankfurt, Ihre Geburtsstadt, für Sie?

Heimat. Das ist ein intuitives Leitsystem, was ich in mir trage. Ein Gefühl, als ob ich ein Fisch wäre. Ich kann quasi schwimmen in dieser Stadt.

Wenn Sie mal außerhalb Frankfurts unterwegs sind und an die Heimat denken: Gibt es eine Erinnerung, die Ihnen sofort in den Sinn kommt?

Das blau-weiße Autobahnschild. Dieses Schild, dieser Schriftzug bedeutet für mich Heimat, seit ich ein Kind bin. Und es ist jedes Mal wieder ein tolles Gefühl, nach Hause zu kommen.

Sie sind gebürtiger Frankfurter, der die Stadt wahrscheinlich wie seine Westentasche kennt. Haben Sie ein paar Insider-Tipps? Wie sieht Ihr perfektes Wochenende in Frankfurt aus?

Ob es "Westentaschentipps" sind, weiß ich nicht, aber ich gehe gerne auf der Schweizer Straße in Sachsenhausen einkaufen. Dann liebe ich es, einen guten Kaffee zu trinken. Im Mocca oder im Café im Liebieghaus, meinem Lieblingscafé hier in Frankfurt seit 30 Jahren. Ein Spaziergang im Stadtwald gehört ebenfalls zu meinem perfekten Wochenende. Auch ein Besuch in der Kleinmarkthalle ist sehr schön. Immer auch lohnenswert ist ein Ausflug zur Eintracht (mit dem Fahrrad) oder das fantastische Kulturangebot der Stadt: von den Museen und der Oper über das Theater bis hin zu (klassischer) Musik. Und schließlich: sonntagmorgens die ZEIT lesen.

Vielen Dank für das Gespräch.