Das Literaturhaus Frankfurt liegt zwar nicht am Meer, sondern am Main. Trotzdem bietet es mit dem Projekt Wörtermeer einen ganz besonderen Ozean an, mit dem die Vielfalt der deutschen Sprache zelebriert wird. Mit dabei: zehn Diesterweg+-Teilnehmende, die im Gelben Raum des Literaturhauses mit Workshopleiter Arne Rautenberg ein ganz besonderes Sprachbad nahmen.
Die Sonne scheint hell und warm vom Himmel an diesem Montagmorgen im April. Während andere Schulkinder noch in den Kojen liegen, sammeln sich zehn Diesterweg+-Kinder unter dem Säulendach des Literaturhauses, um sich in den nächsten Stunden und Tagen spielerisch mit Poesie, Reimen und der deutschen Sprache zu befassen. "Es ist immer überraschend, was passiert, wenn man anfängt zu schreiben", begrüßt Benno Hennig von Lange, Geschäftsführer des Literaturhauses, die jungen Gäste.
Anfangs zeigt sich die Gruppe noch zurückhaltend. Doch gelingt es Arne Rautenberg schnell, die Jugendlichen für sich zu gewinnen. Man merkt, dass der mehrfach ausgezeichnete Lyriker zum einen öfter Workshops an Schulen gibt, zum anderen selbst Vater von bereits erwachsenen Kindern ist. "Mein Sohn ist Rapper", erzählt er, was für Staunen bei den Kids sorgt, und dass er früher in seiner eigenen Schulzeit gern mit rosa Tinte geschrieben hat – "weil ichs cool fand!" Für manche von ihnen ist der Autor kein Unbekannter, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Denn Rautenbergs Werke finden sich in den Deutschbüchern der Kinder wieder, weshalb er später auch gerne für die Workshop-Teilnehmerinnen und deren Lehrerinnen Autogramme schreibt.
Nach der Kennenlernrunde wird der Themenradius bestimmt. "Freundschaft wäre ein schönes Thema, oder?", fragt Arne Rautenberg in die Runde. Zustimmendes Kopfnicken. Um ein erstes Gefühl zu geben, was sie erwartet, liest er im Anschluss ein paar seiner Gedichte vor. Viele entstünden meist in den Abendstunden, er sei eine Nachteule, so Rautenberg, von hundert geschriebenen seien vielleicht 50 gut. Das Los eines Poeten: Nicht jedes Werk überzeugt. Den Kindern gefällt das wortgewordene Schlagzeugsolo sehr gut, "Dicke Dackel" wird ebenfalls mit positiver Rückmeldung versehen. Nach dieser Kostprobe geht es ans Eingemachte, Hefte und Stifte werden ausgeteilt. "Legt drei Dinge vor euch hin", fordert der Dozent seine jungen Schülerinnen und Schüler auf. Die Aufgabe: "Stellt euch vor, ihr wärt diese Gegenstände. Was würdet ihr euch wünschen?" Eine vermeintlich knifflige Aufgabe, doch die Kinder meistern sie fantasievoll und mit Bravur. So wünscht sich beispielsweise ein Teilnehmer als personifizierter Stift, dass er schöne Worte schreibt. Eine andere würde sich in ihrer Metamorphose in ein Smartphone wünschen, nicht so oft benutzt zu werden.
"Mein Zuhause ist, wo liebevolle Freude ist"
Als nächste Aufgabe soll in zehn Zeilen beschrieben werden, wo Zuhause ist – mit wunderschönen Resultaten. "Mein Zuhause ist, wo liebevolle Freude ist", beschreibt jemand sein Gefühl von Heimat. So geht es munter die nächsten Stunden weiter. Die Kinder lernen, was ein "Zevenaar" ist, nämlich ein siebenzeiliges Gedicht, oder erfinden Haikus, wofür besonders Linda offenbar ein ganz besonderes Faible hat: Während bei vielen noch die Finger zum Zählen der Silben im Versmaß zum Einsatz kommen – 5-7-5 – schreibt Linda ein Haiku nach dem anderen. Die kleinen Werke strotzen vor Persönlichkeit und Fantasie.
"Ich habe beim Zuhören das Gefühl gehabt, zehn Sekunden mit dir im Urlaub gewesen zu sein", lobt Arne Rautenberg. Sieben unterschiedliche Formate beackern die Kinder an diesem Montag. Bis zum Nachmittag schreiben und formulieren sie, erfinden große und kleine Geschichten, werden zu Nachwuchspoetinnen und -poeten. Sie machen sich Gedanken, lassen ihrer Fantasie freien Lauf, erschaffen mal Tiefsinniges, mal Abstraktes, malen schöne Wortbilder oder erschaffen gewitzte kleine Wortkunst. Am Ende der ersten Poesie-Einheit sind die Kinder müde, aber zufrieden. "Ich schreibe normalerweise nicht so gern, aber hier hat's Spaß gemacht", tönt es aus den Reihen. "Im Unterricht ist mein Kopf gerne mal leer, hier geht es gut", lobt eine andere. "Es war toll hier, wir lernen andere Sachen als in der Schule", freut sich eine Dritte.
.jpg)
Szenenwechsel.
Der Keller der zentralen Stadtbücherei bietet mit einem schallgedämmten Aufnahmestudio eine tolle Räumlichkeit, den Main-Klang. Für die Diesterweg-Gruppe ein spannender Besuch, zumal mit Tomek auch noch ein ehrenamtlicher Profi an den Reglern sitzt, der die Takes jedes und jeder einzelnen aufnimmt, mischt und in ein Gesamtwerk gießt. Die Kinder sind aufgeregt, am 2. Tag haben sie noch einmal intensiv die Stifte zum Glühen gebracht, neue Werke verfasst und bestehende Lieblingsstücke verfeinert, die an diesem letzten Tag der Schreibwerkstatt aufgenommen werden sollen – vorgetragen von den kleinen Künstlerinnen und Künstlern selbst.
Bevor es ans Mikro geht, stehen Auflockerungsübungen auf dem Programm. Denn nur aufgewärmte Stimmbänder können Bestleistungen bei der Aufnahme bringen. Die ausgewählten Werke werden munter laut und deutlich auf verschiedenste Art und Weise vorgetragen, mal wie ein Roboter, dann wie eine ordentlich langgezogene Kaugummiwortwurst, am Ende leise flüsternd, jede Silbe akkurat betont.
Peu à peu kommen die Teenager nacheinander ins Studio, um ihre Werke einzusprechen. Manche ziehen auf dem ersten Take gleich durch, hin und wieder braucht es wegen eines Verhasplers einen zweiten oder dritten Versuch. "Ist gar nicht so leicht", staunen sie. Sprechen kann jeder, Einsprechen ist dann doch nochmal eine andere Angelegenheit. Doch anstelle klein beizugeben, sind die Kinder angespornt, ihr Bestes zu geben. "Versuch es mit mehr Gefühl", ermuntert Beate Moran ihren Diesterweg-Alumnus. "Gute Beute", lobt Arne Rautenberg, der an diesem Vormittag ein letztes Mal Zeit mit den Kids verbringt, bevor der Zug ihn heim in den Norden nach Kiel bringt. Doch hört er noch, wie Ryan tiefsinnig in seinem Gedicht fragt: "Kann man nicht mal Letzter sein?", und David stellt erstaunt fest, dass sich sein Gedicht den Fuß gebrochen hat. Wie das eben nur in der Poesie möglich ist.
Das Resultat kann sich hören lassen: Die Diesterweg-Kids haben im Wörtermeer ein charmantes, einzigartiges Hörwerk produziert. Dafür hat sich das frühe Aufstehen in den Ferien am Ende doch mehr als gelohnt.