Auf das Thema Familie schaut jeder durch seine eigene "Brille". Die einen sehen Familien zunehmend unter Druck, weisen auf die jährlich steigende Zahl von gemeldeten Kindeswohlgefährdungen hin, befürchten gar die Erosion der Familie. Andere wiederum betrachten die Familie nach wie vor als Keimzelle der Gesellschaft, als erste und wichtigste Sozialisationsinstanz, als Garant unserer Zukunft.
Welche Sichtweise das "richtigere" Bild ergibt, die durch die dunkel getönte oder diejenige durch die rosarote Brille, lässt sich unmöglich allgemein beantworten. Die viel wichtigere Frage für pädagogische Fachkräfte ist jedoch ohnehin eine ganz andere: Wie können wir Familien wirksam unterstützen?
Familienbildung hat den Auftrag, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken, zu gelingenden Familienbeziehungen beizutragen und so die gesunde Entwicklung von Kindern zu fördern. Wer mit dem Problemblick an diese Aufgaben herangeht, entdeckt schnell Entwicklungsdefizite von Kindern und Erziehungsschwierigkeiten der Eltern als pädagogische Handlungsfelder. Seit den Siebzigerjahren taucht immer wieder die Forderung nach einem "Elternführerschein" auf. Die Logik scheint bestechend: Eltern brauchen bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten, um ihre Erziehung so gestalten zu können, dass ihre Kinder sich optimal entwickeln.
Der Soll-Zustand ist ein definiertes Maß an Wissen und Können, das sich wie beim Autoführerschein in Theorie und Praxis aneignen, überprüfen und bescheinigen lässt. Zum Erwerb des Autoführerscheins besucht man die Fahrschule; analog dazu könnte man für den Elternführerschein in der Elternschule pauken, bis alle Defizite ausgemerzt sind. In der Tat gab und gibt es teils noch heute Institutionen mit diesem Titel. Nach dem Ersten Weltkrieg zogen junge Frauen in die Städte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Fern von ihren Müttern, Tanten und Großmüttern hatten sie dort weder Vorbilder noch familiäre Unterstützung, als sie selbst Kinder bekamen. So entstanden die Mütterschulen. Später wurden sie auf Elternschulen ausgeweitet, die wiederum die Vorläufer der heutigen Familienbildungsstätten sind. Elternschulen, die noch immer so bezeichnet werden, gibt es heute vor allem angegliedert an die Entbindungskliniken. Unrealistisch wäre es, den defizitorientierten Blick gänzlich bannen zu wollen – es hängt vom Kontext ab, welche "Brille" wo am angemessensten ist. Unzweifelhaft notwendig ist das Identifizieren von Defiziten, zum Beispiel in kinderärztlichen Früherkennungsuntersuchungen oder bei der Beurteilung von Gefährdungsmeldungen im Jugendamt.
Darüber, ob im System Schule die nach wie vor gern genutzte Defizitbrille wirklich eine bildungsfördernde Sichtweise begünstigt, lässt sich dagegen streiten. In der Familienbildung jedenfalls ist der Paradigmenwechsel vom defizit- zum ressourcenorientierten Ansatz auf breiter Front längst erfolgt. Der "Early-Excellence"-Ansatz, der in strukturschwachen Regionen Großbritanniens entwickelt wurde und in Deutschland zum prägenden Konzept der Kinder- und Familienzentren wurde, baut auf zwei entschieden ressourcenorientierten Grundannahmen auf: Jedes Kind ist exzellent – und Eltern sind die Experten ihrer Kinder.
Ressourcen- statt Defizitorientierung
In der Videoarbeit mit "Marte Meo", einem Ansatz, der wörtlich übersetzt "aus eigener Kraft" bedeutet, werden Eltern aus dem aufgenommenen Filmmaterial ausschließlich die gelungenen Sequenzen gezeigt – selbst wenn das nur einige Sekunden einer Spielsituation oder eines Blickkontakts zwischen ihnen und ihrem Kind sein sollten. Das gleiche Prinzip heißt im Frühe-Hilfen-Ansatz STEEP "seeing is believing". Beide Konzepte spüren die oft verdeckten Ressourcen der Eltern auf, machen Momente des Gelingens im Bild oder Video sichtbar und nutzen diese Schlüsselsituationen als Grundlage für die weitere pädagogische Beratungsarbeit. Der als sehr wirksam evaluierte Erziehungskurs "Starke Eltern – Starke Kinder" verdeutlicht die Ressourcenorientierung schon in der Überschrift. Jeder Kursabend steht unter einem positiv formulierten Motto. Das erste lautet: "Achte auf die positiven Seiten des Kindes!"
Ist das nicht alles Sozialromantik?
Die rosarote Brille, die alle zweifellos in Familien vorhandenen Probleme einfach nur ausblendet oder schönfärbt? Die Praxis zeigt: Das Gegenteil ist der Fall. Wenn Eltern den ehrlich wertschätzenden Blick von Fachkräften spüren statt kritisiert und belehrt zu werden, entwickeln sie eine viel größere Bereitschaft, sich gerade auch schwierigen Themen zu öffnen.
Die Präventionskette in der Familienbildung
Die Familienprojekte in der Präventionskette der Stiftung Polytechnische Gesellschaft bauen auf diesem Prinzip auf. Die Babylotsen gehen in den Entbindungskliniken zwar aktiv auf Familien mit Belastungen zu, richten ihre Beratung jedoch immer daran aus, was die Eltern selbst als Unterstützungsbedarf formulieren. So hätte eine unerfahrenere Fachkraft einer Mutter in schwierigen Lebensumständen sicherlich eine ganze Reihe an Empfehlungen mit Nachdruck ans Herz gelegt; die Mutter selbst aber wünschte sich lediglich eine Nachsorgehebamme. Die Babylotsin respektierte und erfüllte diesen einzigen Wunsch der Mutter. Nach gleich zwei guten Erfahrungen mit der Hilfe von Fachkräften – einer Babylotsin, die ihr nichts gegen ihren Willen aufzudrängen versuchte, und einer Hebamme, die sie einfühlsam im Wochenbett betreute – war die Mutter bereit für einen nächsten Schritt. Sie kam von sich aus wieder auf die Babylotsinnen zu und bat um weitere Unterstützung.
Die Willkommenstage in der frühen Elternzeit fördern mit der "Ressourcen-Brille" viele Schätze bei Eltern und Kindern zutage. So waren die Müttercafés für eine Mutter, die finanziell und familiär mit allerlei Herausforderungen zu kämpfen hatte, und ihre kleine Tochter, die an einem seltenen und schweren genetischen Defekt litt, eine wohltuende Oase im stürmischen Alltag. Nur hier konnte die Mutter ihr Kind einfach als fröhliches Baby unter anderen Babys erleben. In Beobachtungseinheiten erkannte sie, dass die Tochter sich trotz ihrer körperlichen Beeinträchtigungen in ihrem eigenen Tempo entwickelte und trotz ihrer Schwerhörigkeit mit Neugier und Freude die Welt entdeckte. So gewann die Mutter den positiven Blick zurück, der hinter den Sorgen eines mehr als einjährigen Diagnostikmarathons verloren zu gehen drohte, und konnte ihre Tochter wieder mit ganz anderem Selbstvertrauen in deren Entwicklung begleiten – die viel positiver verlief, als anfangs zu befürchten stand.
Nachhaltige Unterstützung
Dass sich das Diesterweg-Stipendium für Kinder und ihre Eltern zu einem bundesweiten Exportschlager entwickelt hat, liegt sicherlich auch daran, dass hier die Ressourcenorientierung bereits im Titel beginnt. Wer täte sich nicht leichter damit, ein Stipendium und damit eine Auszeichnung anzunehmen, als um Hilfe bitten zu müssen? Das allein wäre allerdings noch nicht viel mehr als ein cleverer Marketingkniff. Ressourcenorientierung in der Begleitung von Familien am Übergang von der Grund- in die weiterführende Schule bedeutet viel mehr. Das dreigliedrige deutsche Schulsystem separiert früh und ist nicht besonders durchlässig, was zwangsläufig schon im Grundschulalter den bangen Blick fördert. So machte sich eine indische Familie, deren eher schüchterne Tochter im Halbjahreszeugnis in der vierten Klasse keine so guten Noten hatte, große Sorgen.Würde es trotzdem irgendwie fürs Gymnasium "reichen" Und falls nicht, wäre dann ihrer Tochter nicht automatisch schon die Zukunft verbaut? Gespräche mit der ganzen Familie, in denen der Vater feststellte, dass er ja selbst trotz seiner gar nicht geradlinigen Bildungsbiografie einen guten Weg gefunden hatte, brachten einen Perspektivwechsel.
Mit dem ressourcenorientierten Blick änderten sich die Fragen: In welcher Schulform kann sich unser Kind am wohlsten fühlen und sein Potenzial am besten entfalten? Was sind die Interessen und die Stärken unserer Tochter und wie können wir sie darin unterstützen? So traf die Familie schließlich die Entscheidung für eine Gesamtschule und ermöglichte dem künstlerisch begabten Mädchen zudem Zeichenunterricht. In der Folge blühte nicht nur das Mädchen auf, die ganze Familie blickte sichtlich gestärkt in die Zukunft.
Wer sich also das nächste Mal Sorgen um Familien macht – um Familie und Bildung im Allgemeinen oder um eine konkrete Familie aus dem privaten oder beruflichen Umfeld im Speziellen –, möge es einfach einmal ausprobieren und versuchsweise die Brille wechseln. Die Chancen stehen gut, dass durch die andere Färbung plötzlich unerwartete Potenziale und neue Wege sichtbar werden.