Interview

Der Sprachbotschafter

27. Oktober 2022, von Axel Braun. Foto: Dominik Buschardt

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Im Polytechnik-Interview wirft Prof. Dr. Roland Kaehlbrandt einen Blick zurück auf die vergangenen 16 Jahre, teilt Erinnerungen und gibt einen Ausblick auf das, was nach dem 30. September auf ihn wartet.

Herr Prof. Kaehlbrandt, Sie sind ein Mann des Wortes, Ihre Zitatensammlung ist zumindest innerhalb der Belegschaft der Stiftung legendär. Haben Sie einen Begriff für die zurückliegenden 16 Jahre Stiftung Polytechnische Gesellschaft?

ROLAND KAEHLBRANDT »Eine Chance für Frankfurt.« Diese Bezeichnung stammt aus den ganz frühen Tagen der Stiftung. Damals war es in der Tat eine einmalige Chance, dass hier in Frankfurt so eine große Stiftung entstehen konnte, die sich die Stadtgesellschaft zum Thema macht und versucht, ganz konkrete Verbesserungen zu erzielen. Wir wollten die Stiftung in die Stadt hineinbauen und möglichst viele Menschen erreichen. Aus allen Stadtteilen, Milieus und Generationen. Als Breiten- und als Spitzenförderung. Wichtig war dafür eine starke Vernetzung mit anderen Stiftungen, mit den Vereinen, dem Bildungswesen, den Hochschulen und den Kammern. Aus einer traditionellen Frankfurter Bürgervereinigung kommend und mit dem Netzwerk der Polytechniker im Rücken, ist uns dies gelungen.

Was waren im Jahr 2006 die drängenden Herausforderungen? Unterscheiden sie sich sehr von denen der heutigen Zeit?

ROLAND KAEHLBRANDT Viele Themen von damals sind noch heute von Bedeutung. Zum Beispiel »Integration durch Sprache« oder wie man heute sagen würde »Teilhabe durch Sprache« – das hat uns dann auch recht schnell zum Deutschsommer gebracht. Ein Leitprojekt, das bis heute mit großem Erfolg durchgeführt wird. Andere Themen – damals wie heute – waren die Zukunft des Ehrenamts, die Bindungsfähigkeit innerhalb der Familie und natürlich die
Förderung der Wissenschaften. Was uns aber gerade anfangs sehr interessiert hat, war die Beantwortung der Frage: »Was ist polytechnisch?« Denn wir sind eine Stiftung aus der Mitte der 1816 gegründeten Polytechnischen Gesellschaft, und da war es für uns natürlich von großer Bedeutung, dass die Mitglieder als Stifter sich selbst
wiederfinden.

Zu welcher Antwort sind Sie gekommen? Gibt es eine »polytechnische Handschrift«?

ROLAND KAEHLBRANDT »Bildung. Verantwortung. Frankfurt.« haben wir das genannt. Gemeint ist die Förderung der vielseitigen Persönlichkeit als Bildungsideal, verbunden mit einer praktischen Anwendung und stets orientiert an gesellschaftlicher Nützlichkeit für die
Frankfurter Stadtgesellschaft. Uns war es immer wichtig, dass wir mit unserer Arbeit nicht zu abstrakt werden, nicht zu sehr im reinen Diskurs verortet sind, sondern eher in der gesellschaftlichen Praxis. Damit die Wirkung unserer Arbeit sichtbar, nachvollziehbar und auch messbar ist. All das verbunden mit einer Elastizität, die dafür sorgt, dass wir schnell auf aktuelle Herausforderungen reagieren und unsere Arbeit daran anpassen können. Das macht für mich die polytechnische Handschrift aus.

Und gab es ein Erfolgsrezept für Ihre Arbeit als Stiftungsmanager?

ROLAND KAEHLBRANDT Ich hatte das große Glück einer wirklich sehr harmonischen Zusammenarbeit mit meinem Vorstandskollegen Johann-Peter Krommer. Wir sind durchaus verschieden, aber ergänzen uns sehr gut und haben eine flexible und gleichzeitig sehr präzise Art der Zusammenarbeit entwickelt. Es war ebenfalls ein großes Glück, dass die Stiftung unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Ring entwickelt wurde und dank seiner Begeisterungsfähigkeit, seiner Konzilianz und seiner großen Erfahrung schnell auf Flughöhe gekommen ist. Ebenso die stets sehr gute Zusammenarbeit mit den Präsidenten der Polytechnischen Gesellschaft, dem Stiftungsrat, unseren Gremien und der ganzen Stifterversammlung – also den Polytechnikern. Von der hier herrschenden polytechnischen Geistesverwandtschaft und einem großen beidseitigen Interesse und auch Verständnis profitiert die Stiftung sehr. Und vor allem vom fähigen Team der Stiftung, mit hoher Professionalität, großem Einsatz und auch Stolz auf den Erfolg des anderen. Im Polytechniker-Haus herrschen gemeinsames Verständnis und geteilte Leidenschaft für die Stiftungsaufgabe – ohne das ginge es alles gar nicht.

ROLAND KAEHLBRANDT
(* 25.12.1953 in Celle) studierte in Köln und Paris Romanistik, Germanistik und Ethnologie. 1985 bis 1987 DAAD-Lektor für deutsche Sprache an der Pariser Sorbonne. 1987 bis 1990 Direktor der Deutschen Stiftung Maison Heinrich Heine in Paris. 1989 Promotion. 1990 bis 1993 Pressesprecher des Deutsch-Französischen Jugendwerks. 1993 bis 1999 Kommunikationschef der Bertelsmann Stiftung. 1999 bis 2006 Geschäftsführer der Hertie-Stiftung. 2006 Vorstand der Stiftung Polytechnische Gesellschaft, seit 2008 Vorstandsvorsitzender. Vorsitzender der Initiative Frankfurter Stiftungen e.V. Seit 2016 Honorarprofessor für Sprache und Gesellschaft an der Alanus-Hochschule. Mitglied des Kuratoriums der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Haben sich Ihrer Erinnerung konkrete »Bilder des Gelingens« aus der Stiftungsarbeit eingebrannt? Situationen, in denen der gesellschaftliche Nutzen Ihrer Arbeit erlebbar wurde?

ROLAND KAEHLBRANDT Derer gibt es viele. Beispielsweise in der ersten Generation Stadtteil-Botschafter. Da erinnere ich mich an einen jungen Mann, der einen unglaublichen Idealismus und starkes Charisma mitbrachte, aber in der Schule große Schwierigkeiten hatte. Wir haben ihn begleitet und dann im Projekt erlebt, wie ihn die positive Zuwendung, die er als Reaktion auf sein ehrenamtliches Engagement erhalten hat, auch in der Schule beflügelt hat, sodass er wieder Tritt fassen konnte und nachher sogar Schulsprecher wurde. Oder die vielen »polytechnischen Karrieren«, beispielsweise zwei Brüder, die wir ganz früh in das Diesterweg-Familienstipendium aufgenommen haben. Sie sind heute – knapp 15 Jahre später – angehende Lehrer und auch Junge Polytechniker. Sie sind Vorbild für andere. Vor Kurzem habe ich im Kolleg für junge Talente zwei Stipendiatinnen getroffen, die ich kenne, seit sie neun Jahre alt sind. Sie stehen inzwischen kurz vor dem Abitur und gehören zu den besten und vielseitigsten Schülerinnen ihrer Schule. Aufstieg durch Bildung – das ist, was wir erreichen wollen.

Gibt es Fähigkeiten oder Eigenschaften, die die Stipendiaten der Stiftung einen?

ROLAND KAEHLBRANDT Ja, ganz bestimmt. Unsere jüngsten Stipendiaten sind neun Jahre alt. Die Ältesten über 70. Was sie eint, ist eine große Neugier auf andere Menschen, Offenheit, Vorurteilslosigkeit und auf jeden Fall großes Engagement und eine Identifikation mit Frankfurt. Das gilt für eine zugezogene Familie genauso wie für einen alteingesessenen Bornheimer. Einheit in Vielfalt will ich es nennen.

Als Stiftungsmanager haben Sie ja das »Problem«, dass Sie Projekte konzipieren und realisieren, aber eigentlich nie selbst daran teilnehmen können. Wenn Sie sich mal in Ihre Jugendjahre zurückversetzen: An welchen Projekten der Stiftung hätten Sie gern selbst teilgenommen?

ROLAND KAEHLBRANDT Sicher am Projekt Stadtteil-Botschafter, weil es ein kreatives Format ist und man so viel mitnehmen und selbst anstoßen kann. Und ich hätte auch gern an der Jungen Paulskirche teilgenommen. Weil dieses Projekt einen historischen, einen sprachlich-rhetorischen und einen politischen Aspekt vereint. Als begeisterter Musiker hätte ich wohl auch bei Jazz und Improvisierte Musik in die Schule! mitgemacht.

Ihre Herkunft aus der rheinischen Metropole Köln und Ihre Liebe zu Frankreich sind bekannt. Bei vielen Ihrer Reden gehören kurze sprachliche Ausflüge ins Kölnische zum
Repertoire; auf Ihrem Nummernschild steht ein RF für Republique Française. Welchen Platz hat Frankfurt in Ihrem Herzen?

ROLAND KAEHLBRANDT Einen ganz großen. Frankfurt ist der Lebensmittelpunkt meiner Familie und auch meine Heimat geworden. Ich schätze die hiesige bürgerschaftliche Tradition, den immer noch spürbaren Geist einer ehemals freien Reichsstadt und eines aufgeklärten Bildungs- und Handelsbürgertums. Frankfurt ist nicht nur eine Stadt der Wirtschaft, sondern auch eine Stadt der Kultur, des Buches, eine Stadt der Debatte, eine Stadt der Zuwanderung mit starker Integrationsfähigkeit und mit Sinn für Humor. Und natürlich die heimliche Hauptstadt der Stiftungen. All das macht Frankfurt sehr lebens- und auch liebenswert.

»Ein Feuerwerk an neuen Ideen«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 2006 nach einem der ersten öffentlichen Auftritte der Stiftung. Haben Sie noch Ideen, die Sie bislang nicht umsetzen konnten?

ROLAND KAEHLBRANDT In den letzten Jahren haben wir noch einmal einen ganzen Strauß neuer Projekte und Ideen verwirklichen können: das Kolleg für junge Talente, die Junge Paulskirche, das Digitechnikum, die Nachhaltigkeitspraktiker und auch die Straßen-Uni. Damit reagieren wir ganz unmittelbar und direkt auf neuartige Herausforderungen unserer Zeit. Ab Oktober wird mein Nachfolger die Projektarbeit der Stiftung in die nächste Generation führen.

Haben Sie Pläne für die Zeit nach der Stiftung?

ROLAND KAEHLBRANDT Ja, aber nicht zu viele! Was sagte die Lyrikerin Monika Rink in ihrer Dankesrede so treffend, als sie kürzlich den Hölderlin-Preis in Bad Homburg entgegennahm: Selbstüberraschung statt Nutzungsdruck. Künftig werde ich nach Jahren mit sehr langen Arbeitstagen mehr Zeit mit meiner wunderbaren Familie verbringen können. Noch intensiver kann ich mich glücklicherweise mit der Vielfalt der Sprachen und vor allem mit unserer unterschätzten und so lebendigen deutschen Sprache
beschäftigen – vielleicht als eine Art inoffizieller Sprachbotschafter?

Vielen Dank für das Gespräch.

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