Förderlinie Psychische Gesundheit

»Man muss die Eltern stärken – für die Elternschaft«

17. Juli 2025, von Jens-Ekkehard Bernerth. Foto: Unsplash/Dorota Trzaska

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Im Interview erklärt der Wiesbadener Psychiater und Psychotherapeut Dr. med. habil. Hamid Peseschkian, warum frühzeitige Psychohygiene wichtig ist, wieso das Selbstwertgefühl für Jung und Alt eine zentrale Rolle spielt, weshalb Eltern gezielt unterstützt werden sollten – und warum er im Stuhlkreis ein erstaunlich wirksames Mittel für alle Altersklassen sieht. Ein Artikel aus unserer Reihe zur Förderlinie Psychische Gesundheit.

Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft möchte mit der Förderlinie auf die Bedeutung des Themas Psychische Gesundheit aufmerksam machen. In unserer redaktionellen Begleitung zum Themenkomplex lassen wir unterschiedliche Stimmen und Ansichten von Expertinnen und Experten sowie Betroffenen zu Wort kommen. Die in den Beiträgen geäußerten Ansichten und Meinungen geben dabei nur die der jeweiligen Person wieder und müssen nicht mit denen des Herausgebers übereinstimmen.

Herr Dr. Peseschkian, wie geht es Ihrer Meinung nach unserer Gesellschaft?

Dr. Peseschkian: Leider nicht gut. Die weltpolitischen Spannungen und die Folgen der Pandemie haben dazu geführt, dass sich viele Menschen zurückziehen. Wir stehen vor tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, für die in der Politik oft keine ausreichenden Vorbereitungen getroffen wurden. Dazu kommen alte, ungelöste Themen – etwa Traumata, die nicht nur in Osteuropa wieder hochkochen. Da ist enorm viel in Bewegung, und wir haben viel zu tun.

Gibt es Altersgruppen, die besonders betroffen sind? Oder leiden ältere Menschen stärker, weil alte Ängste wieder wach werden?

Dr. Peseschkian: Ich würde eher sagen: Den Älteren geht es oft besser. Wir sehen aktuell eine sehr hohe Belastung bei Kindern und Jugendlichen. In unserer Einrichtung – übrigens der größten ambulanten psychotherapeutischen in Hessen – ist etwa die Hälfte unserer Patientinnen und Patienten unter 18. Und in vielen Fällen stehen die Eltern im Mittelpunkt des Problems. Viele sind schlicht überfordert oder wirken so, als hätten sie wenig Lust auf ihre Rolle. Deshalb setzen wir gezielt darauf, Mütter und Väter zu stärken. Das wird uns noch viele Jahre beschäftigen.

Also sind Eltern eigentlich gerade aus ihrer Erfahrung für Kinder und Jugendliche das Hauptproblem, weil die seelische Last nicht aufgefangen wird?

Dr. Peseschkian: Ich arbeite unter anderem mit dem Ansatz der Positiven Psychotherapie – einer humanistisch-psychodynamischen Richtung, die davon ausgeht, dass der Mensch grundsätzlich seinem Wesen nach gut ist. Als Bild: Der Mensch ist wie eine Diamantenmine – voller Potenzial, das durch Erziehung geschliffen wird. Die ersten 20 Jahre sind Fremderziehung durch die Eltern, die restlichen 60 Jahre Selbsterziehung. Und genau wie in der Politik ist es auch hier: Die Probleme von heute hängen mit der Generation davor zusammen. Wenn wir morgen anfangen, unsere Kinder wirklich gut zu erziehen, könnten wir bald sehr viel friedlichere Verhältnisse schaffen. Dafür braucht es aber eine stärkere Wertschätzung von Elternschaft. Heute wird man schief angesehen, wenn man sagt: "Ich bin Mutter und Hausfrau." Früher war das gesellschaftlich noch anerkannt. Auch Väter müssen heute viel stärker eingebunden werden.

»Ich schätze, etwa ein Drittel der Kinder ist eifersüchtig auf das Smartphone der Eltern. Das ist ein ernstes Thema, das wir gesellschaftlich angehen müssen.« Dr. Hamid Peseschkian Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie

Aber wie kann bewerkstelligt werden, dass Eltern-sein wieder als spannend und interessant gilt?

Dr. Peseschkian: Es braucht viel mehr konkrete Tipps und praktische Hilfestellung für den Erziehungsalltag. Viele haben das im eigenen Elternhaus gar nicht mehr mitbekommen. In Großfamilien oder Mehrgenerationenhaushalten ist das manchmal anders. Aber wer als Elternteil allein ist, braucht umso mehr Unterstützung. Das sehen wir auch im Klinikalltag. Häufig sagen Kinder zu uns: "Können Sie bitte mit meinen Eltern sprechen? Sie sind ständig am Handy und haben kaum Zeit für mich." Ich kenne keine exakten Zahlen, aber ich schätze, etwa ein Drittel der Kinder ist eifersüchtig auf das Smartphone der Eltern. Das ist ein ernstes Thema, das wir gesellschaftlich angehen müssen.
Und dann ist da das Selbstwertgefühl: Ich bin nicht der Einzige, der glaubt, dass fast alle psychischen Probleme – mit Ausnahme der körperlich bedingten – letztlich mit einem geringen Selbstwert zu tun haben. Und dieser entwickelt sich ganz früh – in der Kindheit.

Was können Eltern konkret tun, um das Selbstwertgefühl ihrer Kinder zu stärken?

Dr. Peseschkian: Wenn wir das Selbstwertgefühl als Schlüssel begreifen, ist die erste Maßnahme erstaunlich einfach: Eltern müssen ihrem Kind das Gefühl geben, wichtig zu sein. Einfach sagen: "Du bist mir wichtig." Diese Botschaft können Eltern mit großer Wirkung vermitteln – allein durch ihre Position. Im Kern bedeutet Selbstwert ja: Ich bin es wert, geliebt zu werden. Und das erfahren Kinder idealerweise durch bedingungslose Liebe. Das heißt: "Wir lieben dich, weil du da bist. Genauso wie du bist, bist du unser Wunschkind." Das klingt banal, ist aber von zentraler Bedeutung. Denn in vielen Familien – ich würde sagen in etwa 80 Prozent – herrscht eher eine Art "bedingter Liebe" vor: "Wir haben dich lieb – wenn du brav bist, gute Noten hast oder dein Zimmer aufräumst." Das ist keine gute Grundlage für gesunde psychische Entwicklung.

»Natürlich ist heute vieles anders als vor 50 Jahren, daher benötigen wir auch neue Strukturen – etwa Schulungen für werdende Eltern.«

Was aber, wenn Eltern selbst keine bedingungslose Liebe erfahren haben?

Dr. Peseschkian: Es gibt diesen alten Satz: "Wer erzieht eigentlich die Erziehenden?" Wir drehen uns hier seit Jahrzehnten im Kreis. Der erste Schritt wäre, das ganze Thema viel stärker in die Öffentlichkeit zu holen. Bildung ist präsent in den Medien – Erziehung hingegen kaum. Berufstätigkeit, Streik, Umweltschutz sind Themen, aber Erziehung? Nicht wirklich. In Videos der sozialen Netzwerke, wie YouTube oder TikTok, sieht man oft nur, wie anstrengend Kinder seien. Das schreckt viele ab. Wir brauchen aber ein gesellschaftliches Umdenken, eine neue Begeisterung für Elternschaft. Natürlich ist heute vieles anders als vor 50 Jahren, daher benötigen wir auch neue Strukturen – etwa Schulungen für werdende Eltern.

Laut Statistiken ist angeblich jeder vierte Deutsche oder jeder vierte Erwachsene von psychischen Krankheiten betroffen. Muss man nicht auch selbst gesund sein, um gesunde Kinder zu erziehen?

Dr. Peseschkian: Absolut. Ich plädiere dafür, junge Familien über Jahre hinweg zu begleiten. Warum gehen wir mit kleinen Kindern regelmäßig zur U-Untersuchung – aber nicht mit Blick auf die Erziehung? Es muss nicht immer gleich eine Therapie sein. Es müsste viel mehr niederschwellige Angebote geben, etwa regelmäßige Elterngruppen. Das hilft nicht nur den Eltern selbst, sondern entlastet auch die Gesellschaft.

Wie soll das alles finanziert werden?

Dr. Peseschkian: Ganz ehrlich: Das ist für mich nie die erste Frage. Ich frage zuerst: Ist es sinnvoll? Und dann findet sich auch ein Weg. Zum Beispiel haben wir in unserem Institut fast 1.200 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ausgebildet. Viele arbeiten heute in Praxen. Ich empfehle seit Jahren, dass mehr von ihnen direkt an Schulen arbeiten. Schulpsychologen gibt es kaum, meist nur vereinzelt Schulsozialarbeiter für hunderte von Schülerinnen und Schüler. Ich finde: Das sollte ganz selbstverständlich über die Krankenkassen laufen – denn es würde viel früher helfen, viel auffangen. Außerdem sollten wir dort hingehen, wo sich Kinder und Jugendliche tagsüber aufhalten – in den Schulen.

Sie haben 500 Patientinnen und Patienten unter 18 – was ist mit den anderen? Zeigt das nicht, dass auch viele Erwachsene seelisch leiden?

Dr. Peseschkian: Absolut. Und vorweg: Deutschland hat das beste Psychotherapie-System der Welt – das sage ich mit voller Überzeugung. Jeder gesetzlich Versicherte hat Anspruch auf Psychotherapie – ohne Überweisung, ohne Zuzahlung. Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen werden teils zwischen 100 bis 180 Sitzungen übernommen – das gibt es weltweit sonst nicht. Trotzdem: Nicht jede Belastung braucht gleich Therapie. Ich finde, Schulen sollten Orte des Wohlbefindens sein. Es braucht Begegnungen, Austausch, vielleicht auch einfach mehr psychologische Präsenz – zum Beispiel bei Elternabenden. Oder eine Doppelstunde pro Woche für Selbstreflexion. Da lassen sich viele Themen aufgreifen.

Besteht nicht die Gefahr, dass - wenn sich jetzt zum Beispiel Kinder aus verschiedenen Klassenstufen in diesem Angebot zusammenfinden - daraus eine Mobbing-Dynamik entstehen könnte?

Dr. Peseschkian: Wenn es nur für bestimmte Gruppen angeboten würde, ja. Deshalb bin ich dafür, solche Angebote für alle zu machen – wie ein Pflichtkurs. Ich kenne niemanden, der so etwas nicht gebrauchen könnte. Dann erreicht man auch die Themen, die sonst zu Hause untergehen. Und man muss einfach anfangen. In unserem Institut hatten wir früher Onlinekurse für Eltern, die Basics der Erziehung vermittelten. Leider war die Teilnahme eher gering – obwohl der Bedarf riesig ist.

Unterm Strich plädieren Sie also für starke Peers in der Erziehung, für mehr Elternarbeit und dass früher angesetzt wird.

Dr. Peseschkian: Genau. Am Ende geht es um das Menschenbild, das wir haben – und um die ersten Lebensjahre, die so entscheidend sind. Wenn wir uns da gesellschaftlich mehr verantwortlich fühlen, und Elternschaft wieder mit mehr Positivität und weniger Druck betrachten, kann viel verändert werden. Statt ständig zu fragen: „Welche Noten hast du bekommen?“, sollten wir öfter fragen: "Wie geht es dir? Was hast du heute erlebt?" Auch handyfreie Zeiten halte ich für notwendig. Das wird sicher zu Diskussionen zu Hause führen – aber es ist notwendig.


Kommen wir zum Thema Resilienz. Kann Resilienz geübt werden? Das wäre ja für diese Zeiten, die wir erleben, eine gute Sache.

Dr. Peseschkian: Auf jeden Fall. Manche sind von Natur aus resilient – aber alle anderen können es lernen. Man muss eine gute Balance im Leben finden: zwischen Körper, Arbeit, Beziehungen und dem Sinn im Leben. Das vermitteln wir auch in der Positiven Psychotherapie. Und Kinder können das ebenfalls schon lernen.

Wie ist das mit den Älteren, die vielleicht nicht so resilient sind? Die sagen "Ach, mir geht es ja schon ganz okay, weil es eigentlich wie immer, wie früher, alles ist schlecht?" Was tut man da?

Dr. Peseschkian: Auch da gilt: Jeder Mensch hat sein individuelles Gleichgewicht. Aber sobald ein Bereich dauerhaft zu kurz kommt, kippt das Ganze. Dann spüren wir die Folgen – manchmal erst spät. Darum ist Balance so wichtig.

Also ist für Sie Resilienz auch ein Balanceakt zwischen den Säulen des Lebens?

Dr. Peseschkian: Würde ich so sagen, ja. Es gehört dazu, zu lernen, wie man mit schwierigen oder einschneidenden Ereignissen im Leben umgeht. In der Psychologie sprechen wir von sogenannten "Life-Events" – also Lebensereignissen, die nicht unbedingt negativ sein müssen. Auch ein Lottogewinn zählt dazu, denn auch der kann erheblichen Stress auslösen. Ebenso ein Todesfall oder eine Heirat. Solche Ereignisse sind zunächst einmal neutral – ob sie als positiv oder negativ erlebt werden, hängt von der individuellen Situation ab. Ob eine Heirat gut oder schlecht ist, hängt von der Beziehung ab. Ein Todesfall kann für den einen eine Erlösung sein – "Gott sei Dank" –, für den anderen bedeutet er den totalen Zusammenbruch. Die Bedeutung eines Ereignisses liegt also immer im Auge des Betrachters. Je mehr Lebensbereiche in Balance sind, desto besser kann man mit solchen Ereignissen umgehen. Wenn aber nur wenige tragende Lebensbereiche existieren, steigt die Gefahr, dass das gesamte Lebenskonzept und damit auch das Selbstwertgefühl ins Wanken gerät – zum Beispiel, wenn das ganze Leben nur auf Arbeit aufgebaut ist und dann plötzlich der Ruhestand eintritt.
Das sogenannte Balancemodell geht davon aus, dass es vier zentrale Quellen des Selbstwertgefühls gibt. Und idealerweise stützt sich das Leben nicht nur auf eine, sondern gleich auf mehrere dieser Säulen. Diese vier sind: Gesundheit, Beschäftigung (also etwa Beruf, Schule oder Ausbildung), Beziehungen – und schließlich die Frage nach dem Sinn im Leben. Wenn diese Bereiche gut entwickelt sind, lassen sich Lebensereignisse deutlich besser bewältigen.

»Wenn man sein ganzes Leben lang das Selbstwertgefühl hauptsächlich aus der Arbeit gezogen hat, dann reicht das alles plötzlich nicht mehr aus. Dann reicht auch der Rosengarten nicht, dann genügen die Enkel allein nicht. Man muss erst lernen, dass das genug sein darf – und dass daraus neue Lebenskraft entstehen kann.« Dr. Hamid Peseschkian

Was passiert dann psychologisch, wenn so ein alles aufwirbelndes Ereignis stattfindet? Suchen sich die Leute Hilfe?

Dr. Peseschkian: Meistens nicht. Und wenn doch, dann oft erst, wenn das belastende Ereignis schon eingetreten ist – etwa der Renteneintritt. Dabei wäre es viel hilfreicher, sich frühzeitig Unterstützung zu holen, um bestimmte Themen vorher zu klären und vorzubereiten. Häufig sucht man sich Hilfe erst im Nachhinein – sei es durch ein Buch oder eine Therapie. Aber dann kann es unter Umständen schon zu spät sein. Nehmen wir das Beispiel Ruhestand: Theoretisch ist alles da, was man für einen erfüllten Lebensabschnitt braucht – der Rosengarten, ein Hund, die Enkel, Reisen. Und dann stirbt jemand kurz nach dem 67. Geburtstag, obwohl er körperlich eigentlich fit war. Wenn man sein ganzes Leben lang das Selbstwertgefühl hauptsächlich aus der Arbeit gezogen hat, dann reicht das alles plötzlich nicht mehr aus. Dann reicht auch der Rosengarten nicht, dann genügen die Enkel allein nicht. Man muss erst lernen, dass das genug sein darf – und dass daraus neue Lebenskraft entstehen kann. Aber das passiert nicht über Nacht. Das muss man aufbauen – am besten lange bevor das Ereignis eintritt.

»Was wirklich glücklich macht, sind gesunde Beziehungen.«

Welches ist das häufigste Krankheitsbild im Alter?

Dr. Peseschkian: Depression – insbesondere bei Männern über 70. Es wird oft suggeriert: „Wenn es dir schlecht geht, brauchst du nur mehr (materielle) Dinge.“ Aber das stimmt nicht. Was wirklich glücklich macht, sind gesunde Beziehungen.

Was ist neben gesunden Beziehungen noch ein wichtiger Aspekt?

Dr. Peseschkian: Der spirituelle Sinnbereich ist auch oft ein Thema. Das Leben in der Retroperspektive betrachten, Erlebtes zu hinterfragen. In der Psychotherapie wird dies als Versöhnung mit dem Alter bezeichnet. Es ist daher unsere Pflicht, Kindern von Anfang an zu vermitteln, auf alle Bereiche des Lebens Wert zu legen. Weil sonst ist die Gefahr der Einseitigkeit enorm groß, was sich später - wie ausgeführt - rächen kann.

Themenschwerpunkt Psychische Gesundheit

Wie soll dieses Wissen verbreitet werden, um die Gesellschaft gesünder werden zu lassen?

Dr. Peseschkian: Glauben Sie mir, der Stuhlkreis ist wirklich ein hervorragendes Format – einfach und gleichzeitig sehr wirkungsvoll. Vor allem bei den Jüngeren – ich sage mal, unter 60 – gibt es viele Menschen, die offen sind für so etwas. Ich bin überzeugt, dass Kindergarten und Schule ideale Orte dafür sind. Dort findet echte Begegnung statt, auch interkulturell. Und durch die Schulpflicht sind ja auch fast alle Kinder und Jugendlichen automatisch mit dabei. Man könnte hier ansetzen und eine einfache Anleitung zur Selbstreflexion etablieren – mit Fragen wie: "Was hast du heute gemacht oder erlebt?", "Was war für dich heute das schönste Erlebnis?", oder auch: "Was war heute traurig?" Solche Gespräche können sehr viel auslösen – ganz ohne großen Aufwand.

Stuhlkreis für die jungen Menschen hört sich gut an. Doch was können wir für die Alten und Mittelalten tun?

Dr. Peseschkian: Nun, zum einen kann sich in Deutschland grundsätzlich jeder therapeutische Hilfe holen. Es gibt zudem zahlreiche Selbsthilfegruppen, Fachliteratur und Bücher. Aber was ich mir wirklich wünsche, ist eine gezielte Begleitung junger Familien. Ich würde den Schwerpunkt klar auf Kinder und Jugendliche legen – denn dadurch erreicht man automatisch auch die Eltern und langfristig die älteren Generationen mit. Gleichzeitig gibt es noch unglaublich viel ungenutztes Potenzial. Vielleicht sollten wir tatsächlich beim Stuhlkreis-Konzept bleiben – und es generationsübergreifend weiterentwickeln. Ein Mehr-Generationen-Format, in dem echte Begegnung stattfindet. Und ganz klar: Ich bin für eine stark eingeschränkte Smartphone-Nutzung – besonders im familiären Alltag.

Glauben sie, dass nach der Pandemie sich die Zahlen von Menschen, die in Therapie sind oder die Therapie benötigen, jetzt nochmal verändern, wenn wir jetzt eine Erhebung machen würden in allen Altersstufen?

Dr. Peseschkian: Ja, da bin ich sicher. Wir wissen, dass die psychischen Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen während und nach der Pandemie enorm zugenommen haben – ich glaube, um rund 40 Prozent. Auch die Zahl der Suizidgedanken ist deutlich gestiegen. Das haben meine Kolleginnen und ich in den letzten 40 Jahren in diesem Ausmaß noch nie erlebt. Diese drei Jahre Pandemie waren sehr belastend – vor allem für junge Menschen. Für Erwachsene war es zwar auch herausfordernd, aber zwei, drei Jahre haben in einem langen Leben ein anderes Gewicht als in der Entwicklung eines Kindes. Ein Zehnjähriger erlebt diese Zeit ganz anders als ein Vierzigjähriger. Erwachsene haben oft mehr Strukturen, zum Beispiel durch ihre Arbeit – aber natürlich gilt auch das nicht für alle. Bei Kindern und Jugendlichen sehen wir einen massiven Anstieg sozialer Ängste, Phobien, Essstörungen. Das ist ein riesiges Problem – vor allem, wenn wir an die nächsten 20 Jahre denken.

Also braucht es mehr Stellen, mehr Angebote – mehr Stuhlkreise?

Dr. Peseschkian: Unbedingt. Aber es muss nicht sofort das große Ganze sein. Wenn wir das Thema wirklich in den Fokus rücken und mit kleinen, konkreten Schritten beginnen, kann das sehr viel bewirken. Man könnte etwa Elternabende nutzen, um einfache Grundlagen der Erziehung zu vermitteln – oder noch besser: die Eltern miteinander ins Gespräch bringen. Ich glaube, wir müssen weg von allzu komplexen oder verkopften Modellen, die kaum jemand versteht, und hin zu einer klaren, lebensnahen Sprache. Mit solchen Basics kann man viel erreichen – und dieses Wissen dann Schritt für Schritt in den Familienalltag bringen.

Herr Dr. Peseschkian, vielen Dank für das Gespräch.

Hilfe bei Suizidgedanken

Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Reden hilft. Verschiedene Organisationen bieten Hilfe an:

Der Patientenservice der gesetzlichen Krankenkassen vermittelt Sprechstunden bei Psychotherapeuten : 11 6 117

Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222. Deren Mitarbeitende sind rund um die Uhr erreichbar und ansprechbar. Unter telefonseelsorge.de gibt es zudem Online-Angebote.

Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 11 6 111

Eine Übersicht findet sich bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention unter suizidprophylaxe.de

Förderlinie
»Psychische Gesundheit«

Die Förderlinie "Psychische Gesundheit" stellt für einen Zeitraum von drei Jahren einen sechsstelligen Betrag für gemeinnützige Projekte in Frankfurt zur Verfügung, die sich in besonders wirkungsvoller Weise für die psychische Gesundheit in Frankfurt engagieren.

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