Aber wie kann bewerkstelligt werden, dass Eltern-sein wieder als spannend und interessant gilt?
Dr. Peseschkian: Es braucht viel mehr konkrete Tipps und praktische Hilfestellung für den Erziehungsalltag. Viele haben das im eigenen Elternhaus gar nicht mehr mitbekommen. In Großfamilien oder Mehrgenerationenhaushalten ist das manchmal anders. Aber wer als Elternteil allein ist, braucht umso mehr Unterstützung. Das sehen wir auch im Klinikalltag. Häufig sagen Kinder zu uns: "Können Sie bitte mit meinen Eltern sprechen? Sie sind ständig am Handy und haben kaum Zeit für mich." Ich kenne keine exakten Zahlen, aber ich schätze, etwa ein Drittel der Kinder ist eifersüchtig auf das Smartphone der Eltern. Das ist ein ernstes Thema, das wir gesellschaftlich angehen müssen.
Und dann ist da das Selbstwertgefühl: Ich bin nicht der Einzige, der glaubt, dass fast alle psychischen Probleme – mit Ausnahme der körperlich bedingten – letztlich mit einem geringen Selbstwert zu tun haben. Und dieser entwickelt sich ganz früh – in der Kindheit.
Was können Eltern konkret tun, um das Selbstwertgefühl ihrer Kinder zu stärken?
Dr. Peseschkian: Wenn wir das Selbstwertgefühl als Schlüssel begreifen, ist die erste Maßnahme erstaunlich einfach: Eltern müssen ihrem Kind das Gefühl geben, wichtig zu sein. Einfach sagen: "Du bist mir wichtig." Diese Botschaft können Eltern mit großer Wirkung vermitteln – allein durch ihre Position. Im Kern bedeutet Selbstwert ja: Ich bin es wert, geliebt zu werden. Und das erfahren Kinder idealerweise durch bedingungslose Liebe. Das heißt: "Wir lieben dich, weil du da bist. Genauso wie du bist, bist du unser Wunschkind." Das klingt banal, ist aber von zentraler Bedeutung. Denn in vielen Familien – ich würde sagen in etwa 80 Prozent – herrscht eher eine Art "bedingter Liebe" vor: "Wir haben dich lieb – wenn du brav bist, gute Noten hast oder dein Zimmer aufräumst." Das ist keine gute Grundlage für gesunde psychische Entwicklung.
»Natürlich ist heute vieles anders als vor 50 Jahren, daher benötigen wir auch neue Strukturen – etwa Schulungen für werdende Eltern.«
Was aber, wenn Eltern selbst keine bedingungslose Liebe erfahren haben?
Dr. Peseschkian: Es gibt diesen alten Satz: "Wer erzieht eigentlich die Erziehenden?" Wir drehen uns hier seit Jahrzehnten im Kreis. Der erste Schritt wäre, das ganze Thema viel stärker in die Öffentlichkeit zu holen. Bildung ist präsent in den Medien – Erziehung hingegen kaum. Berufstätigkeit, Streik, Umweltschutz sind Themen, aber Erziehung? Nicht wirklich. In Videos der sozialen Netzwerke, wie YouTube oder TikTok, sieht man oft nur, wie anstrengend Kinder seien. Das schreckt viele ab. Wir brauchen aber ein gesellschaftliches Umdenken, eine neue Begeisterung für Elternschaft. Natürlich ist heute vieles anders als vor 50 Jahren, daher benötigen wir auch neue Strukturen – etwa Schulungen für werdende Eltern.
Laut Statistiken ist angeblich jeder vierte Deutsche oder jeder vierte Erwachsene von psychischen Krankheiten betroffen. Muss man nicht auch selbst gesund sein, um gesunde Kinder zu erziehen?
Dr. Peseschkian: Absolut. Ich plädiere dafür, junge Familien über Jahre hinweg zu begleiten. Warum gehen wir mit kleinen Kindern regelmäßig zur U-Untersuchung – aber nicht mit Blick auf die Erziehung? Es muss nicht immer gleich eine Therapie sein. Es müsste viel mehr niederschwellige Angebote geben, etwa regelmäßige Elterngruppen. Das hilft nicht nur den Eltern selbst, sondern entlastet auch die Gesellschaft.
Wie soll das alles finanziert werden?
Dr. Peseschkian: Ganz ehrlich: Das ist für mich nie die erste Frage. Ich frage zuerst: Ist es sinnvoll? Und dann findet sich auch ein Weg. Zum Beispiel haben wir in unserem Institut fast 1.200 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ausgebildet. Viele arbeiten heute in Praxen. Ich empfehle seit Jahren, dass mehr von ihnen direkt an Schulen arbeiten. Schulpsychologen gibt es kaum, meist nur vereinzelt Schulsozialarbeiter für hunderte von Schülerinnen und Schüler. Ich finde: Das sollte ganz selbstverständlich über die Krankenkassen laufen – denn es würde viel früher helfen, viel auffangen. Außerdem sollten wir dort hingehen, wo sich Kinder und Jugendliche tagsüber aufhalten – in den Schulen.
Sie haben 500 Patientinnen und Patienten unter 18 – was ist mit den anderen? Zeigt das nicht, dass auch viele Erwachsene seelisch leiden?
Dr. Peseschkian: Absolut. Und vorweg: Deutschland hat das beste Psychotherapie-System der Welt – das sage ich mit voller Überzeugung. Jeder gesetzlich Versicherte hat Anspruch auf Psychotherapie – ohne Überweisung, ohne Zuzahlung. Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen werden teils zwischen 100 bis 180 Sitzungen übernommen – das gibt es weltweit sonst nicht. Trotzdem: Nicht jede Belastung braucht gleich Therapie. Ich finde, Schulen sollten Orte des Wohlbefindens sein. Es braucht Begegnungen, Austausch, vielleicht auch einfach mehr psychologische Präsenz – zum Beispiel bei Elternabenden. Oder eine Doppelstunde pro Woche für Selbstreflexion. Da lassen sich viele Themen aufgreifen.
Besteht nicht die Gefahr, dass - wenn sich jetzt zum Beispiel Kinder aus verschiedenen Klassenstufen in diesem Angebot zusammenfinden - daraus eine Mobbing-Dynamik entstehen könnte?
Dr. Peseschkian: Wenn es nur für bestimmte Gruppen angeboten würde, ja. Deshalb bin ich dafür, solche Angebote für alle zu machen – wie ein Pflichtkurs. Ich kenne niemanden, der so etwas nicht gebrauchen könnte. Dann erreicht man auch die Themen, die sonst zu Hause untergehen. Und man muss einfach anfangen. In unserem Institut hatten wir früher Onlinekurse für Eltern, die Basics der Erziehung vermittelten. Leider war die Teilnahme eher gering – obwohl der Bedarf riesig ist.
Unterm Strich plädieren Sie also für starke Peers in der Erziehung, für mehr Elternarbeit und dass früher angesetzt wird.
Dr. Peseschkian: Genau. Am Ende geht es um das Menschenbild, das wir haben – und um die ersten Lebensjahre, die so entscheidend sind. Wenn wir uns da gesellschaftlich mehr verantwortlich fühlen, und Elternschaft wieder mit mehr Positivität und weniger Druck betrachten, kann viel verändert werden. Statt ständig zu fragen: „Welche Noten hast du bekommen?“, sollten wir öfter fragen: "Wie geht es dir? Was hast du heute erlebt?" Auch handyfreie Zeiten halte ich für notwendig. Das wird sicher zu Diskussionen zu Hause führen – aber es ist notwendig.
Kommen wir zum Thema Resilienz. Kann Resilienz geübt werden? Das wäre ja für diese Zeiten, die wir erleben, eine gute Sache.
Dr. Peseschkian: Auf jeden Fall. Manche sind von Natur aus resilient – aber alle anderen können es lernen. Man muss eine gute Balance im Leben finden: zwischen Körper, Arbeit, Beziehungen und dem Sinn im Leben. Das vermitteln wir auch in der Positiven Psychotherapie. Und Kinder können das ebenfalls schon lernen.
Wie ist das mit den Älteren, die vielleicht nicht so resilient sind? Die sagen "Ach, mir geht es ja schon ganz okay, weil es eigentlich wie immer, wie früher, alles ist schlecht?" Was tut man da?
Dr. Peseschkian: Auch da gilt: Jeder Mensch hat sein individuelles Gleichgewicht. Aber sobald ein Bereich dauerhaft zu kurz kommt, kippt das Ganze. Dann spüren wir die Folgen – manchmal erst spät. Darum ist Balance so wichtig.
Also ist für Sie Resilienz auch ein Balanceakt zwischen den Säulen des Lebens?
Dr. Peseschkian: Würde ich so sagen, ja. Es gehört dazu, zu lernen, wie man mit schwierigen oder einschneidenden Ereignissen im Leben umgeht. In der Psychologie sprechen wir von sogenannten "Life-Events" – also Lebensereignissen, die nicht unbedingt negativ sein müssen. Auch ein Lottogewinn zählt dazu, denn auch der kann erheblichen Stress auslösen. Ebenso ein Todesfall oder eine Heirat. Solche Ereignisse sind zunächst einmal neutral – ob sie als positiv oder negativ erlebt werden, hängt von der individuellen Situation ab. Ob eine Heirat gut oder schlecht ist, hängt von der Beziehung ab. Ein Todesfall kann für den einen eine Erlösung sein – "Gott sei Dank" –, für den anderen bedeutet er den totalen Zusammenbruch. Die Bedeutung eines Ereignisses liegt also immer im Auge des Betrachters. Je mehr Lebensbereiche in Balance sind, desto besser kann man mit solchen Ereignissen umgehen. Wenn aber nur wenige tragende Lebensbereiche existieren, steigt die Gefahr, dass das gesamte Lebenskonzept und damit auch das Selbstwertgefühl ins Wanken gerät – zum Beispiel, wenn das ganze Leben nur auf Arbeit aufgebaut ist und dann plötzlich der Ruhestand eintritt.
Das sogenannte Balancemodell geht davon aus, dass es vier zentrale Quellen des Selbstwertgefühls gibt. Und idealerweise stützt sich das Leben nicht nur auf eine, sondern gleich auf mehrere dieser Säulen. Diese vier sind: Gesundheit, Beschäftigung (also etwa Beruf, Schule oder Ausbildung), Beziehungen – und schließlich die Frage nach dem Sinn im Leben. Wenn diese Bereiche gut entwickelt sind, lassen sich Lebensereignisse deutlich besser bewältigen.