Michael Köhler und Ernst Szebedits sind Stadtteil-Historiker. Ihr Projekt: Die Entstehungsgeschichte der 15 großformatigen Fotografien von Barbara Klemm, die die Wände der Frankfurter U-Bahn-Station Bockenheimer Warte zieren. Im Rahmen ihrer Recherchen, unterstützt durch die Stiftung Polytechnische Gesellschaft, konnten Köhler und Szebedits Kontakt zu mehr als 50 der rund 200 abgebildeten Personen herstellen.
Es ist ein regnerischer Herbstabend. Wohl auch deshalb sind auf dem Weg zum Pupille-Kinoraum im Studierendenhaus auf dem Bockenheimer Campus der Goethe-Universität nur sehr vereinzelt Studentinnen und Studenten anzutreffen. Auch die Flure und das Treppenhaus im Inneren des Gebäudes sind leer – und doch voller Leben: Die Wände und Türen des Gebäudes erzählen Geschichten aus vielen Jahrzehnten trubeligen Studierendenlebens; überall kleben Sticker, an den Wänden findet man so manche Parolen oder einfach nur Sätze, mit denen sich Menschen verewigt haben. Es sind Momentaufnahmen aus vergangenen Zeiten. Das ganze Gebäude atmet Geschichte – bildete es doch über viele Jahrzehnte als fester Bestandteil des "alten" Campus einen der Mittelpunkte des Unilebens in Frankfurt.
Zeitzeugen an der Bockenheimer Warte
Eine Zeitreise – diese erwartet auch diejenigen, die an diesem Abend dem Wetter trotzen und ebenfalls ihren Weg in das Gebäude und den Vorführraum finden, um dort die Stuhlreihen zu füllen. Eingeladen haben Michael Köhler und Ernst Szebedits, um der interessierten Öffentlichkeit die Ergebnisse ihres Stadtteil-Historiker-Projekts zu präsentieren. In den letzten anderthalb Jahren haben der ehemalige Lektor und der frühere Filmproduzent und Vorstand der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung zur Geschichte der 15 Fotos von Barbara Klemm im ersten Tiefgeschoss der U-Bahn-Station Bockenheimer Warte geforscht, die dort im Großformat die Wände zieren.
Die beiden begrüßen die Besucherinnen und Besucher, Michael Köhler stellt ein Bild vor, das von einem Projektor vollflächig auf die große Leinwand geworfen wird. Es zeigt eine Momentaufnahme des 18. Mai 1982, als der damalige hessische CDU-Landesvorsitzende Alfred Dregger auf Einladung des Rings Christlich-Demokratischer Studenten im Hörsaal VI an der Frankfurter Goethe-Universität sprechen sollte. Doch dazu sollte es nicht kommen: Seine Ansprache ging in lauten, ironischen Jubelchören der linken Studentenschaft unter, schließlich musste Dregger seinen Auftritt sogar abbrechen. "Dieser junge Herr mit dem Bandana auf dem Bild, das ist Ernst Szebedits, der heute hier neben mir sitzt; und dort, etwas versteckter, bin ich zu sehen. Als wir uns damals in den 80er-Jahren auf diesem Foto in der U-Bahn-Station erkannt haben, haben wir uns natürlich darüber gefreut, dass wir darauf zu sehen sind."
Forscherteam auf Spurensuche
Jahrzehntelang blieb es bei der stillen Freude darüber, dort gemeinsam mit einem Moment der Zeitgeschichte verewigt worden zu sein. Doch 2023 änderte sich das. "Damals hat mir ein befreundeter Stadtteil-Historiker von seinem Projekt erzählt – und gefragt: 'Wollt ihr nicht eigentlich mal die Geschichte dieses Fotos mit euch darauf vorstellen?' Diese Idee fanden wir sehr gut, aber ein einziges Foto für das Projekt schien uns zu wenig – es gibt ja noch 14 andere."
So beschlossen die beiden, über die ganze Fotoserie und ihre Entstehungsgeschichte zu forschen – und wurden mit dieser Idee in das Programm der Stiftung Polytechnische Gesellschaft aufgenommen. Seit März 2023 bis heute haben sie mit 55 der insgesamt rund 200 auf den Bildern abgebildeten Personen Kontakt aufnehmen können, per E-Mail, Telefon oder in Form von persönlichen Gesprächen; sie haben im Uniarchiv und im Institut für Stadtgeschichte geforscht, nutzten auch das Netzwerk der Polytechnischen Gesellschaft und Berichte in der Presse. Außerdem führten sie ein ausführliches Gespräch mit Barbara Klemm, die an diesem Abend ebenfalls mit auf dem Podium sitzt – eine besondere Ehre für das Projektteam. "Wir sind sehr glücklich darüber, dass Barbara Klemm sich die Zeit genommen hat, um heute hier dabei zu sein", so Ernst Szebedits.
"Die Idee, eine U-Bahn-Station in Frankfurt künstlerisch zu gestalten, entstand schon Anfang der 80er Jahre", so Köhler. "Die Idee, die Bockenheimer Warte mit Fotos aus dem Unileben auszustatten, kam dann in einer gemeinsamen Aktion von Universitätsleitung und Stadt zustande; es wurde entschieden, einen Fotowettbewerb an der Universität auszuschreiben: Studentinnen und Studenten wurden dazu aufgefordert, Fotos aus dem Unileben zu schießen und sie für den Wettbewerb einzureichen – im Anschluss sollten diese Aufnahmen an der Bockenheimer Warte gezeigt werden." Es kam dann allerdings ganz anders. Am Ende wurden zwar zehn Fotos prämiert, es gab auch Geldpreise; doch die Jury befand, so geht es aus einem Protokoll hervor, auf das Köhler bei seinen Recherchen stieß: "Bei der ersten Begutachtung stellten wir fest, dass die Qualität der eingereichten Fotos nicht unbedingt ausreicht, um sie in der U-Bahn-Station ausstellen zu können." Daraufhin entschied sich die Stadt dazu, Barbara Klemm anzusprechen und sie mit einer Fotoserie für die Haltestelle Bockenheimer Warte zu beauftragen. Sie zog durch die Gebäude der Universität und machte zahlreiche Bilder – einige entstanden zufällig, andere in bewusst gewählten Seminaren und Vorlesungen mit vorheriger Anmeldung; manche der später ausgewählten Fotos existierten auch schon in ihrem Archiv.
Studierendenleben der 80er-Jahre
Es sind unterschiedlichste Szenen, die alle vor rund 40 Jahren von Barbara Klemm eingefangen wurden. "Ein Foto ist hier im Gebäude, genau unter uns, entstanden, vor dem Café KOZ im Studierendenhaus." Weitere Bilder zeigen Szenen aus dem nicht weit entfernten ehemaligen Sozialzentrum, die gut besuchte Cafeteria und einen in Unterlagen vertieften Studenten im Foyer. "Für diese Szene hatte ich ursprünglich einen jungen Iraner fotografiert", erinnert sich Barbara Klemm, die an diesem Abend immer wieder mal einzelne ihrer Fotos kommentiert. "Er meldete sich aber später bei mir und sagte, er wolle und könne auf keinen Fall Teil der Serie in der U-Bahn-Station sein, denn er habe Angst vor dem iranischen Geheimdienst. Ich habe das Bild daraufhin noch einmal mit einem anderen Studenten aufgenommen, das ursprüngliche Bild in der U-Bahn-Station musste nachts mit dem neuen Bild überklebt werden."
»Im ganzen Studienjahrgang der Physik gab es damals unter schätzungsweise 100 Leuten nur eine oder zwei Frauen und keinen einzigen internationalen Studenten.«
Ein auf einer der Fotografien abgebildeter Zeitzeuge zum Hintergrund des Bildes
Es sind jedoch nicht nur Szenen auf dem ehemaligen zentralen Campus zu sehen, die heute wieder lebendig werden; es sind Motive aus den unterschiedlichsten Instituten und Außenstellen der Universität: Zu sehen ist unter anderem eine Gruppe von Medizinstudentinnen und -studenten in einer Station der Uniklinik, die sich im Halbkreis um ihren Professor versammeln, der an diesem Abend – genau wie viele andere Menschen aus der Fotoserie – auch persönlich anwesend ist. Eine Szene aus den Chemischen Instituten auf dem heutigen Campus Riedberg ist ebenfalls dabei. "Eine ehemalige Chemiestudentin, mit der ich sprechen konnte, erinnerte sich, wie beschwerlich der Weg dorthin damals war – weil es kaum gute Verbindungen mit dem öffentlichen Nahverkehr gab", so Köhler. Eine andere Szene zeigt einen Physikprofessor im weißen Kittel hinter seinem Pult und vor einer Tafel voller Formeln, umgeben von seinen Studenten. Ernst Szebedits zitiert zu dieser Szene einen der abgebildeten jungen Männer, mit dem er Kontakt aufnehmen konnte: "Für diese Aufnahme wurde die Vorlesung ausgesetzt; es wurden verschiedenste Messgeräte als Requisiten auf dem Tisch vor der Tafel drapiert. Die dargestellte Szene ist für das geübte Auge ganz offensichtlich gestellt und insofern unrealistisch. In einer Hinsicht ist sie jedoch absolut zutreffend: Im ganzen Studienjahrgang der Physik gab es damals unter schätzungsweise 100 Leuten nur eine oder zwei Frauen und keinen einzigen internationalen Studenten." Darüber hinaus sind Szenen einer Chorprobe, aus dem philosophischen Seminar, einem Biologielabor oder dem Sportcampus zu sehen. Sie alle verbindet, so scheint es, v.a. eines: wie unterschiedlich die befragten Personen, die auf den Aufnahmen zu sehen sind, den Moment jeweils empfunden haben. "Jeder erinnert die Geschichte anders", resümiert Köhler. Alle im Rahmen der Forschungsarbeit gewonnenen Erkenntnisse werden demnächst auch auf einer Website im Internet dokumentiert sein.