Wir leben in einer Zeit, in der die Demokratien weltweit auf dem Rückzug sind und in Europa insbesondere durch rechtspopulistische Parteien infrage gestellt bzw. eingeschränkt werden. Aktuell lässt sich das beispielsweise an Regierungen in Ungarn, der Slowakei, der Türkei und Israel aufzeigen, wo teilweise die Meinungsfreiheit durch staatliche Dominanz von Medien (Ungarn, Slowakei) oder die Gewaltenteilung durch massive Einwirkungen auf die unabhängige Justiz (Ungarn, Türkei, Israel) infrage gestellt wird. Die Pis-Regierung in Polen hat bis zu ihrer Abwahl ebenfalls die unabhängige Justiz massiv eingeschränkt und damit versucht, diese in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Das aktuelle Dreierbündnis in Polen versucht nun, diese Entscheidungen wieder rückgängig zu machen, was nicht sehr einfach ist.
Die Demokratie wird auch in Deutschland durch Rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien wie die AfD infrage gestellt, beispielsweise durch die Forderungen nach Revision unserer Erinnerungskultur in Bezug auf die NS-Zeit, durch Falschnachrichten und Hetze im digitalen Raum oder durch das Infragestellen demokratiepädagogischer Projekte. Dadurch verändert sich das politische Klima. Das ist spürbar durch zunehmenden Antisemitismus und Rassismus.
Junge Menschen sind davon stark berührt, weil sie insbesondere durch digitale Plattformen wie TikTok entsprechend beeinflusst werden. Vor allen Dingen dann, wenn dieses Medium zur einzigen Informationsquelle politischer Themen wird. All das zeigt, dass Demokratien nie auf Ewigkeit existieren, sondern dass Demokratie immer wieder gelehrt und gelebt werden muss.
Bereits Anfang der 2000er Jahre wurde daher ein Bund-Länder-Kommissionsprogramm (BLK) mit dem Titel "Demokratie lernen und leben" aufgelegt, an dem sich 13 Bundesländer beteiligten. Während dieses fünfjährigen Programms wurden eine Reihe von Materialien entwickelt und Instrumente, wie der Klassenrat, umgesetzt. Das Programm kann als Geburtsstunde der Demokratiepädagogik gesehen werden.
Demokratiepädagogik, Demokratielernen, Politische Bildung
Wie unterscheiden sich Demokratiepädagogik, Demokratielernen und Politische Bildung? Politische Bildung wurde in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in Schulen, aber auch in der außerschulischen Bildung eingeführt. In den Schulen hat Politische Bildung einen mehr oder minder nur Inhalte vermittelnden Anspruch und wird weniger oder kaum dazu genutzt, das jeweils eigene Demokratieverständnis zu stärken und aktiv zu leben. Daher ist dieses Fach bei Schülerinnen und Schülern auch nicht sehr beliebt.
"Demokratiepädagogik" im weitesten Sinne lässt sich auf John Dewey, einen US-amerikanischen Philosophen und Pädagogen, zurückführen, der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Demokratie weiter fasste. Er schrieb schon damals:
"Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung." (Dewey, nach Pogrebinschi 2018).
Das weist darauf hin, dass es bei dem Lernen von Demokratie nicht nur darum gehen kann, das politische System zu verstehen – wie es vornehmlich durch den Politikunterricht erfolgt – sondern, dass es darüber hinaus positive Erfahrungen im Alltag mit Demokratie geben muss. Dewey verknüpft die Demokratieidee mit der einer angemessenen Erziehung. "Dewey meint, dass keine Demokratie als Herrschaftsform oder als Regierungssystem lebensfähig sein könne, wenn die Menschen nicht in Freiheit und Gleichheit und im gleichberechtigten Zusammenwirken mit anderen Menschen die 'Fülle einer ganzheitlichen Persönlichkeit' erlangen und wenn die ursprüngliche 'soziale Idee' der Demokratie nicht in den Haltungen und im Verhalten der Menschen im täglichen Leben verankert sei." (Himmelmann 2007)
(nach Rademacher 2021, S. 62)
"Wolfgang Edelstein (hat) die folgende operative Bestimmung von Demokratiepädagogik vorgenommen: ‚Demokratiepädagogik umfasst pädagogische, insbesondere schulische und unterrichtliche Aktivitäten zur Förderung von Kompetenzen, die Menschen benötigen,
- um an Demokratie als Lebensform teilzuhaben und diese aktiv in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu gestalten;
- um sich für Demokratie als Gesellschaftsform zu engagieren und sie durch partizipatives Engagement in lokalen und globalen Kontexten mitzugestalten;
- um Demokratie als Regierungsform durch aufgeklärte Urteilsbildung und Entscheidungsfindung zu erhalten und weiterzuentwickeln‘ (Edelstein 2007)".
(nach Rademacher 2021, S. 64)
Mit Demokratie als Lebensform ist gemeint, dass im Alltag einer Organisation, Einrichtung oder Schule so viele Bedingungen wie möglich geschaffen werden, um sich zu beteiligen. In Organisationen oder Firmen bedeutet es, dass die Mitarbeitenden an der Planung und Umsetzung beteiligt werden und dass ihre Meinung zählt. In der Schule kann dies durch Klassenräte und eine aktive Schüler:innenvertretung erreicht werden. Auch bei der Planung der Umgestaltung von Schulhöfen oder bei Schulneubauten können Schülerinnen und Schüler beteiligt werden. Häufig sind solche Planungen durch Schülerinnen und Schüler preisgünstiger, als wenn nur Erwachsene beteiligt sind.
Demokratie als Gesellschaftsform
Demokratie als Gesellschaftsform drückt sich in der Schule so aus, dass die Schülerinnen und Schüler in das Gemeinwesen hineinwirken, indem sie sich an Umweltprojekten wie der Renaturierung von Bächen beteiligen oder in Kinder- und Jugendparlamenten mitwirken. Hierzu bedarf es entsprechender Strukturen. Im Sinne des Demokratielernens wirken in vielen Städten und Gemeinden Partnerschaften für Demokratie (PfD) und kooperieren mit Schulen.
Das Projekt "Lernen durch Engagement" oder "Servicelernen" ist eines, das im Sinne der Demokratie als Gesellschaftsform wirkt; es kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Eine Variante besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler beispielsweise der 8. Klassen an einem Tag in der Woche in Engagement-Projekte eingebunden sind. Das kann beispielsweise darin be stehen, dass die Schülerinnen und Schüler ältere Menschen in Altersheimen im Umgang mit dem Computer helfen oder andere Aktivitäten, wie das Vorlesen für Blinde, durchführen. Andere Möglichkeiten wären die Mitarbeit bei einem lokalen Radio, in einem Sportverein oder bei Umweltinitiativen. Die Aktivitäten werden in einem Tagebuch festgehalten und immer wieder gemeinsam reflektiert. Sie können mit politischen Themen wie beispielsweise der Umwelt- oder Sozialpolitik verknüpft werden.
Demokratie als Herrschafts- oder Regierungsform muss sich nicht auf die Kenntnis politischer Zusammenhänge und des Verständnisses der Strukturen der Demokratie beschränken, sondern kann sich auch ganz praktisch ausdrücken: Bremer Schülerinnen und Schüler haben sich aktiv für Gesetzesvorhaben, beispielsweise für die die doppelte Staatsbürgerschaft oder die Verbesserung der Unterbringung für Geflüchtete, eingesetzt, und konnten gesetzliche oder strukturelle Verbesserungen erreichen. Dies geschah auch, indem sie mit Parlamentariern und/oder dem regierenden Bürgermeister von Bremen sprachen und ihre Forderungen und deren Umsetzung erläuterten.
Ein sehr gutes Instrument zur Umsetzung von Demokratiepädagogik und Demokratielernen ist der Klassenrat. Dies ist eine feste Stunde einmal pro Woche, die durch die Klassenlehrkraft oder eine Sozialpädagogin regelmäßig durchgeführt wird. Der Klassenrat kann ab der 1. Klasse eingeführt und in angepasster Form bis in die Oberstufe oder in Beruflichen Schulen realisiert werden. Im Klassenrat werden nicht nur organisatorische Fragen wie Ausflüge, Klassenfahrten oder Projekte besprochen. Er kann auch ganz gezielt den Rahmen bieten, um über aktuelle politische Konflikte zu sprechen oder Ideen für Unterrichtsinhalte zu thematisieren. Entscheidend ist, dass der Klassenrat regelmäßig stattfindet und dass die Lehrkraft eine Haltung einnimmt, mit der sie echte Beteiligung der Schülerinnen und Schüler ermöglicht. Im Klassenrat hat die Lehrkraft eine Stimme wie jede Schülerin und jeder Schüler, d.h., sie muss auch Entscheidungen akzeptieren, die nicht ihren Erwartungen entsprechen. Der Klassenrat wird von den Schülerinnen und Schülern – in der 1. Klasse nach und nach – ganz eigenständig organisiert. Hierbei gibt es vier Rollen, die nach einem gewissen Rhythmus wechseln:
1. die Moderation – die auch zu zweit bestritten werden kann;
2. die Protokollführung;
3. der Regelwächter;
4. die Zeitwächterin.
Die Lehrkraft – und auf diese Haltung kommt es besonders an – hält sich zurück und greift nur ein, sollten die Schülerinnen und Schüler überfordert sein und sich nicht mehr an ihre selbst entwickelten Regeln halten.
Eine Weiterentwicklung ist der diskriminierungskritische Klassenrat, der derzeit von der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe) weiterentwickelt wird. Nähere Informationen finden sich auf der Homepage www.degede.de. Eine Fundgrube für Demokratieprojekte findet sich beim Bundeswettbewerb "Demokratisch handeln" (www.demokratisch-handeln.de).
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in Rademacher, Helmolt (2021), Konfliktkultur in Schule entwickeln – wie Demokratiebildung gelingt, Stuttgart.